Geschichte – StudentenPACK. https://www.studentenpack.de Das Magazin der Studenten in Lübeck Mon, 06 Nov 2017 05:39:56 +0000 de-DE hourly 1 145 Jahre nach der Jahrtausendflut https://www.studentenpack.de/index.php/2017/11/145-jahre-nach-der-jahrtausendflut/ https://www.studentenpack.de/index.php/2017/11/145-jahre-nach-der-jahrtausendflut/#respond Mon, 06 Nov 2017 04:30:56 +0000 http://www.studentenpack.de/?p=299085
Abbildung Aus "Die Gartenlaube" von 1872Die Gartenlaube

Abbildung Aus “Die Gartenlaube” von 1872

“In Booten eilte man herbei, die so schwer Bedrohten in Sicherheit zu bringen; auf den Armen kräftiger, muthiger Männer wurden die Frauen und Kinder aus den unter Wasser gesetzten Häusern gerettet, was in nicht seltenen Fällen nur mit eigener höchster Lebensgefahr geschehen konnte.” (“Illustrierte Zeitung”, 14. Dezember 1872)

Im September 2017 sorgte der Monsun in Indien, Nepal und Bangladesch für Überflutungen, die über 1000 Menschen das Leben kosteten. In den USA ging die Stadt Houston nach tagelangem Regen ebenfalls unter. Extremsituationen werden wegen des Klimawandels häufiger werden, warnen Experten und so mag, was heute als eine Jahrtausendflut gilt schon bald nicht mehr als so außergewöhnlich gelten. Grund genug, die stärkste Flut in der Geschichte der Ostsee zu betrachten. Ein stark verspäteter Newsticker:

10. November 1872

In den ersten Novemberwochen des Jahres 1872 war es stürmisch, der Wind kam seit dem ersten November aus Südwest. So stark war der Sturm, dass das Wasser der Ostsee Richtung Finnland verlagert wurde und an der Küste der Ostsee ein extremes Niedrigwasser herrschte, während man in Finnland und an der Baltikumküste mit Hochwasser zu kämpfen hatte. Ausgeglichen wurde das Niedrigwasser zu Teilen durch Nordseewasser, welches den Freiraum nutze und in die Ostsee floss. Insgesamt erhöhte sich dadurch die Wassermenge in der Ostsee.

Sturmtief Xaver sorgte im Dezmber 2014 für Niedrigwasser der Trave. In der darauffolgenden Nacht wurde es windstill und das Ostseewasser schwappte zurück, überflutete dabei auch die Straßen an der Obertrave.StudentenPACK

Sturmtief Xaver sorgte im Dezmber 2014 für Niedrigwasser der Trave.

Wie eine Forschungsarbeit der Uni Siegen für den Deutschen Wetterdienst (DWD) 2008 rekonstruiert hat, ändert sich am 10. November die Wettersituation. Ein atlantisches Tief zog auf südostlicher Bahn Richtung Mitteleuropa. In Skandinavien stieg der Luftdruck und Orkanwinde, diesmal aus dem Osten kommend, trieben das Wasser nun in die Gegenrichtung, das eingeflossene Nordseewasser allerdings konnte nicht schnell genug abfließen.

12. November 1872

“Bei Lübeck schwoll die sonst ruhig dahinfließende Trave schon am 12. so an, dass die Wellen das Bollwerk überfluteten, noch in der darauffolgenden Nacht überschwemmte das Wasser die zum Fluss hinabführenden Straßen” meldete die Illustrierte Zeitung. In Küstenorten flüchteten bereits Menschen aus ihren Häusern. Im “Fehmarn Echo” erzählte Hans Timm eine Geschichte, die ihm sein Vater erzählte, dessen Großvater wenige Tage vor der Sturmflut gestorben war: “Als die Dorfbewohner ihre Häuser fluchtartig verlassen mussten, ließen sie die Leiche zurück. Einige Habseligkeiten und Lebensmittel wurden aufgeladen, das schlachtreife Schwein wurde geschlachtet und mitgenommen. Das Federvieh auf den Boden gebracht und mit Futter versorgt. Die Kühe und die Schafe vorweggetrieben.”

Im Januar 2017 stieg das Wasser auf 1,2 m über Normal.Lukas Ruge | StudentenPACK.

Die Sturmflut von 2017. Auf nur 1,2 Meter stieg das Wasser an und führte an der Trave bereits zu Feuerwehreinsätzen und überfluteten Kellern

Die Illustrierte Zeitung: “Noch in der darauffolgenden Nacht überschwemmte das Wasser die zum Fluß hinabführenden Straßen und stieg am 13. höher und höher. Das ganze Flußbett vom Eingang des Hafens bis zur Holstenbrücke war mit schwimmenden Fässern, Ballen, Waaren aller Art bedeckt.” Das Wasser stieg weiter, gegen Mittag des 13. Novembers kam es zum Höchststand von 3,3 m (Andere Quellen sprechen von 2,9 oder sogar 3,5 Metern) über Normal Null.

Innerhalb des Abends ließ der Sturm nach und noch in der Nacht verschwand auch das Hochwasser. An der südwestlichen Ostseeküste starben mindestens 271 Menschen, mindestens 15.000 Bewohner wurden obdachlos, zehntausende Tiere ertranken. “Traurig sieht es in dem kleinen Ostseebad Niendorf aus. […] Zwölf Wohnhäuser des Dorfs sind völlig vom Erdboden verschwunden, nicht ein Pfahl, nicht ein Ziegelstein kennzeichnet mehr ihren Standort. […] Die von der Sturmflut an den Küsten […] an angerichteten Verwüstungen sind ungeheuer.” Auf Rügen wurde der als Hiddenseer Goldschmuck bekannte Wikingerschatz freigespült.

Flutschutz heute

Erst mit dieser Sturmflut beginnt an der Ostseeküste ein systematischer und verpflichtender Schutz gegen Hochwasser überhaupt zu existieren. Vor Pegelständen wie 1872 ist die Ostseeküste allerdings auch heute nicht geschützt. Als 2016 das Wasser auf der Trave auf 1,2 Meter über Normalnull stieg, standen Obertrave, Lachswehr und andere Teile der Stadt unter Wasser. Eine Flut von 3 Metern würden das Erdgeschoss zahlreicher Häuser bis zur Decke unter Wasser setzen. Der wirtschaftliche Schaden wäre, aufgrund viel engerer Bebauung, viel höher als vor 145 Jahren. Allerdings gibt es deutlich bessere Frühwarnsysteme, der “Warndienst”, der 1872 die Anwohner hätte warnen sollen, versagte. Die zuständigen Männer warnten die Bevölkerung nicht, sondern “liefen in ihre Wohnungen, nur um Rettung ihres Eigenthums besorgt”, schrieb die Leipziger Illustrierte.

2008 ließ der DWD das Ostseesturmhochwasser wissenschaftlich untersuchen, um herauszufinden, wie eine Flut entstehen konnte, die fast doppelt so hoch war, wie die zweithöchste. Wetterdaten über Luftdruck und Meeresspiegel aus dem Jahre 1872 aus ganz Europa wurden eingeholt und ein Computermodel erstellt, welches die heute bekannten Wetterbedingungen präzise simulieren konnte. Die Ergebnisse der Simulation stimmen mit den zeitgenössischen Meldungen überein. Die Simulation zeigt aber auch, welche unwahrscheinliche Kombination von Wetterlagen notwendig war, um eine derartige Sturmflut zu begünstigen.

Mit dem Klimawandel ist weltweit mit einem Anstieg des Meeresspiegels zu rechnen, gleichzeitig werden extreme Wettersituationen häufiger. Aufgrund dieser Lage wurde in Eckernförde 2015 beraten, wie man die Stadt auch vor extremen Fluten sichern könnte. Die TU Hamburg/Harburg bezifferte die Kosten für notwendige Schutzmauern auf 8,8 Millionen Euro und kam zu dem Fazit, es sei für Eckernförde billiger, die Schäden einer Jahrtausendflut, so sie denn eintritt, zu reparieren, als die Schutzmaßnahmen umzusetzen. Denen, die in potentiell von Flut betroffenen Gebieten wohnen, kann also nur geraten sein, sich gut zu versichern.

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Tragödie vor der Haustür https://www.studentenpack.de/index.php/2015/07/tragoedie-vor-der-haustuer/ https://www.studentenpack.de/index.php/2015/07/tragoedie-vor-der-haustuer/#respond Wed, 08 Jul 2015 22:14:27 +0000 http://www.studentenpack.de/?p=213446 Ihr Untergang gehört zu den größten Tragödien der Schifffahrtsgeschichte und ist doch weitgehend unbekannt: Vor 70 Jahren, am 3. Mai 1945, wurden in der Lübecker Bucht die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“ versenkt. Bei dem Angriff britischer Jagdbomber in den letzten Tagen des Krieges kamen mehr als 7000 Menschen ums Leben. An Bord waren jedoch nicht etwa Soldaten oder hochrangige Nazi-Anführer, sondern größtenteils Häftlinge aus dem Hamburger Konzentrationslager Neuengamme.

Neustadt-in-holstein-ehrenfriedhof-cap-arcona-gedenken-70-jahre-gesamtWikipedia-User: Wikimedia Foto "Memorial Stone at Ehrenfriedhof (cemetery) Cap Arcona in Neustadt in Holstein to remember the 7000 killed victims. 70 years passed. Whole picture." von Roland.h.bueb unter einer Creative Commons ( BY) Lizenz "

Bereits Wochen zuvor waren diese auf Befehl Heinrich Himmlers, wohl um die Verbrechen des Nazi-Regimes zu vertuschen und die Inhaftierten nicht in die Hände der auf Hamburg vorrückenden Alliierten fallen zu lassen, auf die vor Neustadt vor Anker liegenden Schiffe deportiert worden. Mehr als 10.000 Häftlinge, viele davon Widerstandskämpfer und andere politische Gefangene, wurden auf Todesmärschen nach Lübeck getrieben und mittels Zubringerschiffen auf die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“ gebracht, bis sich zeitweise über 7000 Menschen allein auf der „Cap Arcona“ befanden. Viele starben bereits auf dem Weg oder an den unmenschlichen Zuständen auf dem Schiff, ihre Leichen wurden einfach liegen gelassen. Die Kapitäne der beiden Schiffe, Heinrich Bertram und John Jacobsen, weigerten sich zunächst entschieden dem Befehl der SS, die KZ-Insassen aufzunehmen, Folge zur leisten, beugten sich dann aber unter Androhung der Erschießung dem Druck.

Bevor sie als „schwimmendes Konzentrationslager“ missbraucht wurde, war die „Cap Arcona“ ein Luxusdampfer und stellte das Flaggschiff der Hamburg-Südamerika-Linie dar, die bis Rio de Janeiro verkehrte. Zu Kriegsbeginn wurde sie der Kriegsmarine unterstellt und diente dann als Kaserne, bis sie 1945 wegen eines Maschinenschadens manövrierunfähig vor Neustadt lag und dem Befehl des „Reichskommissars für die Seefahrt“ Karl Kaufmann unterstellt wurde. Um seinem grausamen Verwendungszweck gerecht werden zu können, wurde das Schiff von der SS umgebaut. Fluchtmöglichkeiten wurden entfernt, die Rettungsboote untauglich gemacht, der Rumpf grau angestrichen, um es nicht wie ein Zivilschiff aussehen zu lassen.

Als die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“ am 3. Mai 1945 angegriffen werden, wissen die Briten von schweizerischen Informanten über die Vorgänge in der Lübecker Bucht Bescheid, es gelingt ihnen jedoch nicht, die Royal Air Force zurückzubeordern. Die 200 Kampfflugzeuge versenken insgesamt 23 Schiffe in der Ostsee und beschädigen über 100 weitere. Während die SS sich zum größten Teil von Bord retten kann, werden die Gefangenen weiter unter Deck festgehalten. Die beiden Schiffe sinken innerhalb von einer Viertelstunde. Wer nicht zu den knapp 400 Überlebenden gehört, ertrinkt oder stirbt in den Flammen.

Es gibt mehrere Spekulationen darüber, warum die KZ-Häftlinge auf die Schiffe gebracht wurden. Die am häufigsten angenommene ist, dass es sich um eine geplante Massentötung der Gefangenen in der Ostsee handelte. Die Schiffe wurden bewusst so präpariert, dass sie nicht von den echten Kriegsschiffen unterscheidbar waren. Es wurden keine weißen Fahnen gehisst und die Treibstoffmenge reichte nur zur Brandbeschleunigung aus. Laut Wilhelm Lange, dem Stadtarchivar Neustadts, stellten die Nationalsozialisten den Briten letztendlich eine Falle zur geplanten Vernichtung der Gefangenen ohne eigenes Zutun. Diese scheinbare Schuldlosigkeit führten die SS-Anführer später auch in Verhören an. Ihnen zufolge sollte die „Cap Arcona“ nach Schweden übersetzen. Auf Grund ihrer technischen Defekte wäre sie dazu jedoch wohl nicht in der Lage gewesen.

Juristisch wurde die Tatverantwortlichkeit am Untergang der KZ-Schiffe nie aufgearbeitet. Die Schiffe wurden erst Jahre später Stück für Stück geborgen, bis weit in die 60er-Jahre fanden Strandurlauber angespülte Überreste der Opfer. Noch immer ruht etwa die Hälfte der Opfer unbestattet in der Ostsee. Die übrigen liegen in Massengräbern entlang der Ostseeküste. Einer der bedeutendsten Gedenkfriedhöfe liegt in Neustadt nahe der Schön-Klinik. Noch immer finden hier jährlich am 3. Mai Gedenkveranstaltungen statt.

Wer mehr über die Tragödie erfahren möchte, dem sei das „Museum Cap Arcona“ in Neustadt ans Herz gelegt. Detailliertere Berichte über die Geschehnisse sowie Biografien einzelner Inhaftierter findet ihr außerdem in einem Artikel unserer Vorgängerzeitung, der „Bauchpresse“ vom Juli 1999 in unserem Online-Archiv.

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Das mittelalterliche Unterwäscheprivileg https://www.studentenpack.de/index.php/2014/05/das-mittelalterliche-unterwascheprivileg/ https://www.studentenpack.de/index.php/2014/05/das-mittelalterliche-unterwascheprivileg/#respond Mon, 05 May 2014 10:50:33 +0000 http://www.studentenpack.uni-luebeck.de/?p=210941 Die Rechtsabteilung der Hansestadt Lübeck bekommt wahrscheinlich eher selten Fragen über Unterwäsche im Mittelalter gestellt. Doch eine Legende verlangte danach, aufgeklärt zu werden, und da fragte ich lieber die Experten.

Alles beginnt letzten Sommer beim Grillen an der Obertrave. Die Sonne scheint und alle paar Minuten tuckert ein eng mit Touristen bepacktes Schiff vorbei. Wir alle – einschließlich unseres Grills – werden Teil unendlich vieler Urlaubsfotos, die eigentlich versuchen, den Dom und das darunter liegende Gängeviertel einzufangen. Aber wir haben auch etwas von dem ganzen Trubel: Aus den Lautsprechern der vorbeifahrenden Touri-Kähne ertönt die Stimme eines Fremdenführers und erklärt uns etwas über den Dom („Backsteingotik“, „800 Jahre alt“), über das Viertel („Die Gänge müssen genau so breit sein, dass ein Sarg durch passt“) und die Überschwemmungen („Das kann ganz schön schnell gehen“).

„Das Ufer der Trave. Gibt es hier ein 600 Jahre altes Sonderrecht?“

“Das Ufer der Trave. Gibt es hier ein 600 Jahre altes Sonderrecht?”

Und dann wäre da noch das Unterwäscheprivileg: „Hier dürfen sie noch ganz offiziell“, so tönt es wieder und wieder aus den Lautsprechern „ihre Wäsche an der Straße aufhängen, das ist noch ein Privileg aus dem 14. Jahrhundert. Das darf man in keiner anderen Großstadt Deutschlands. Die Straße wird deswegen auch oft die „Schlüpfer-Allee“ genannt…“ Wenn man es oft genug hört, glaubt man es irgendwann. Wenn man es dann noch öfter hört, fängt man an, Fragen zu stellen.

Im 14. Jahrhundert war Lübeck eine reichsunmittelbare Stadt im „Heiligen Römischen Reich“, wo das gültige Recht Statuten wie das Goldmünzenrecht, Wormser Konkordat, Fehderecht oder Goldene Bulle waren. Dies hat heute keinerlei Konsequenz mehr und ich frage mich jedes Mal, wenn ich vom „Unterwäscheprivileg“ an der Schlüpfer-Allee höre: Wie kann es sein, dass ein Privileg aus dem 14. Jahrhundert heute noch Relevanz hat? Wie oft musste es dazu von neuen Verwaltungen, über Dänen, Franzosen, Nationalsozialisten, bis heute in irgendeine Stadtverordnung übernommen werden? Und warum?

Erste Station: Google. Doch die Suche fördert nichts Erhellendes zu Tage. Es gibt tatsächlich noch keine Wikipedia-Seite zu mittelalterlichen Wäschereigesetzen.

Zweite Station: Die Schiffbetreiber. Die werden es schon wissen, immerhin behaupten sie es selbst, sie werden mir die Quelle schon nennen können. Doch auf meine Anfrage folgt lediglich ein hilfloses: „Leider kann auch ich im Internet nichts über das Privileg des Wäschetrocknens an der Obertrave finden.“ So weit war ich alleine auch schon. Nun steht aber immerhin schon einmal fest: Sollte jemals ein Fremdenführer gewusst haben, woher er diese Information hat, ist es inzwischen nur noch mündlich weitergereichte Folklore. Ich bin noch nicht zufrieden.

Wenn es stimmt, was bei den Touren behauptet wird, dann handelt es sich bei dem Unterwäscheprivileg um eine rechtliche Situation in Lübeck, und so wende ich mich an die Rechtsabteilung der Stadt: „Darf ich wirklich nirgends sonst in der Stadt meine Wäsche öffentlich trocknen?“ Die Rechtsabteilung erbittet sich Zeit, man sei überarbeitet und unterbesetzt. Aber nach einiger Arbeit kommt man dort zu folgender Einschätzung: Von einem besonderen Privileg für die Obertrave oder gar einem Verbot andernorts will man nichts wissen. Das Wäscheaufhängen sei wohl vielerorts erlaubt oder zumindest toleriert, unter anderem eben an der Obertrave. Das Bedürfnis danach sei mit dem Aufkommen der Wäschetrockner eben zurückgegangen und so sei öffentlich trocknende Wäsche in Städten seltener geworden. Zudem habe dies viel mit der Rolle der Frau zu tun: Da inzwischen mehr Frauen berufstätig seien und sich nicht mehr primär um den Haushalt kümmern würden, nutze man eben Technologie. Es fehle schlicht die Zeit, die Wäsche auf der Leine trocknen zu lassen.

Aber damit ist man bei der Rechtsabteilung noch lange nicht am Ende: Die gewissenhaften Mitarbeiter beschließen, für die historische Perspektive das Stadtarchiv in die Recherche mit einzubeziehen. Aber auch hier entpuppt sich die Geschichte als weniger spektakulär als die Legende: Ende des 14. Jahrhunderts war das Viertel südlich des Doms das Viertel der Stecknitzfahrer: Schifffahrer, die Salz transportierten. Sie lebten in den Häusern in den Innenhöfen (eben die, deren Gänge so breit wie ein Sarg sein müssen). Diese Häuser hatten kaum Gärten und so nutzten die Schiffer auch das Ufer, um Wäsche zu trocknen, hauptsächlich aber wohl, um ihre Kähne festzubinden. In der Hartengrube findet der aufmerksame Spaziergänger sogar heute noch einen Hinweis auf jene Zeit: An einem der Häuser prangt die Aufschrift „Altes Stecknitzfahrer Amtshaus“.

Von einem extra ausgewiesenen Unterwäscheprivileg ist nichts bekannt. Das Stadtarchiv, so teilt man mir mit, hielte es sogar für höchst unwahrscheinlich, dass eine solche Regelung zur Zeit der Hanse schriftlich fixiert wurde.

Und dort endet sie nun, die Geschichte des Unterwäscheprivilegs, das es wohl nie gab und bis heute nicht gibt. Eine schnöde Aufklärung, die kaum zur guten Anekdote taugt, wenn man mit den Verwandten bei der Stadtführung vom Dom zu den Gängen über die Schlüpfer-Allee spaziert. Schade eigentlich.

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Von Gulden und Talern https://www.studentenpack.de/index.php/2014/02/von-gulden-und-talern/ https://www.studentenpack.de/index.php/2014/02/von-gulden-und-talern/#respond Mon, 03 Feb 2014 09:15:02 +0000 http://www.studentenpack.uni-luebeck.de/?p=209057
Dr. Dummler an seinem Arbeitsplatz im Stadtarchiv

Dr. Dummler an seinem Arbeitsplatz im Stadtarchiv.[media-credit id="152" align="aligncenter" width="645"]

Eine Handvoll Fächer eines unscheinbaren Regals, darin reihen sich Plastikkästen mit Jahreszahlen versehen. Hinter diesem schlichten Aufbewahrungsort verbergen sich 700 Jahre Lübecker Münzgeschichte. Von den Anfängen als kleines Dorf auf einem Hügel, über die Ära als Königin der Hanse bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reiches und dem Beginn der französischen Herrschaft – die Lübecker Münzen waren immer dabei. Auf blauem Stoff in kleinen Fächern liegend, präsentieren sie sich dem Betrachter. Große Dukaten, erhaben, golden glänzend, neben blechernen, hauchdünnen Brakteaten. Schon bald wird man die Münzen hautnah erleben können: 2015 öffnet das Europäische Hansemuseum in Lübeck seine Pforten und wird seine Besucher mitnehmen auf eine Reise durch die Geschichte der Hanse – und untrennbar damit verknüpft – die Handels- und Münzgeschichte Lübecks. Wann und wie die begann und was mit den Münzen alles passierte, bis wir sie schließlich im Museum bestaunen können, ist tatsächlich eine spannende Geschichte.

Pfennige, Floren, Taler, Gulden, Schilling und nicht zuletzt die Mark, die bis 1549 geschlagen wurde – die Lübecker Münzgeschichte ist mit wenigen Zeilen nicht zu umreißen, zu groß ist die Zahl der verschiedenen Münzen, zu komplex ihre Entstehung und Bedeutung. Unbestritten aber ist, dass seit 1226 im Zuge der raschen Stadtvergrößerung das Geld für Stadt und Bürger immer wichtiger und schließlich existenziell wurde. Unabhängigkeit, Handelsneutralität und Reichtum gingen Hand in Hand. „Um seine Handelsneutralität zu wahren, hat Lübeck beispielsweise Fürsten, die gerade Krieg führten mit selbst geprägten Gulden unterstützt“, erklärt Dr. Dieter Dummler, Münzkenner und für viele Jahre passionierter Münzsammler.

Die Anfänge der Münzprägung

1159 ließ Heinrich der Löwe als Stadtherr von Lübeck die ersten Münzen, die Silberpfennige, prägen. Als herausragender Spiegel der politischen Situation kamen in den folgenden Jahrhunderten die unterschiedlichsten Motive und Münztypen zur Ausprägung. Allein von 1191 bis 1226, vornehmlich während der Herrschaft des dänischen Königs über Lübeck, existierten mindestens 60 verschiedene Münztypen.

Eine weitere Besonderheit: Ihr Materialwert entsprach ihrem Nennwert. Während im Europa des 21. Jahrhunderts ein Euro in Italien, den Niederlanden und Frankreich aus Silber hergestellt wird, die in der Bundesrepublik hergestellten 1-Euro-Münzen aber kein bisschen Silber enthalten, war im 13. Jahrhundert das, was draufstand auch drin. Durchaus praktisch, eröffnete es doch theoretisch die Möglichkeit zu spontanen Münzprägungen aus dem persönlichen Silberschatz: „Wenn den alten Kriegsherren auf langen Feldzügen das Geld ausging, prägten sie ihre Münzen einfach an Ort und Stelle, quasi zwischen den Schlachten. Die fachkundigen Handwerker und das nötige Silber hatten sie immer dabei“. Dr. Dieter Dummler weiß einiges über die Münzen und ihre Geschichte zu berichten. Als ehrenamtlicher Mitarbeiter des Stadtarchivs Lübecks hat der pensionierte Kieferorthopäde vier Jahre lang mehr als 2900 Lübecker Münzen, die sich in Besitz der Hansestadt Lübeck befinden und nun im Stadtarchiv gesammelt vorliegen, in mühevoller Kleinarbeit geordnet. Alles, was er dafür brauchte, waren eine Zahnbürste, eine Feinwaage und sein scheinbar unerschöpfliches Wissen. Das Ergebnis können Interessierte sogar von zu Hause aus bestaunen: Seit 2011 existiert eine Online-Münzdatenbank, in der jede Münze ihren eigenen Internet-Auftritt hat.

Tauschen oder Zahlen?

Für die jährliche Münzprägung mussten die Münzherren, die nach dem Erwerb des Münzrechts 1226 unabhängig vom Stadtherrn Geld prägen durften, 60 Mark Silber – also etwa 60 mal 233 Gramm – an ihren Kaiser entrichten. Dies entsprach etwa 28.000 Silberpfennigen. Damit sich die Münzprägung dennoch rentierte, ließen sie jährlich mindestens 100.000 Münzen prägen und in Umlauf bringen. Eine stattliche Summe, von der große Teile der immerhin über 10.000 Stadtbewohner keinen Pfennig zu Gesicht bekamen: „Denn fast 70 Prozent der Bevölkerung hatten überhaupt kein Geld“, erklärt Dr. Dummler. „Bei den durchschnittlichen Lübecker Bürgern sah der Alltag einfach aus: der eine baute einen Tisch für den Nachbarn und der gab ihm dafür etwas von seiner Ernte ab.“

Abenteuerlich mutet schließlich das Schicksal der Lübecker Münzen nach ihrer Sammlung an: Vor 250 Jahren begann der Kaufmann Ludolph Heinrich Müller sein Vermögen in Münzen anzulegen, deren Zahl über Jahrzehnte wuchs und die er schließlich dem Rat der Stadt vermachte. Nachdem diese Sammlung in den 1920er Jahren von der Bibliothek in das Stadtarchiv gekommen war, verbarg man sie während des Zweiten Weltkrieges zum Schutz in einem Salzbergwerk. Kaum war der Krieg beendet, wurden unter sowjetischer Besatzung fast 90 Prozent der Münzen geraubt. Ein Teil tauchte kurz darauf auf dem Schwarzmarkt in Berlin wieder auf. „Lübeck hat sofort zugeschlagen und den Schatz zurückgekauft – hätten wir es auf dem Rechtsweg versucht, hätten sich die Kanäle des Schwarzmarktes geschlossen und der Schatz wäre für immer verloren gewesen“, so Dummler.

Auf dem Grundstück der Musikhochschule Lübeck wurde 1984 bei Bauarbeiten der größte Münzschatz in der deutschen Geschichte gefunden.Flickr Foto "Lübeck" von hsivonen unter einer Creative Commons ( BY ) Lizenz

Auf dem Grundstück der Musikhochschule Lübeck wurde 1984 bei Bauarbeiten der größte Münzschatz in der deutschen Geschichte gefunden.

450 Jahre vergraben unter der Treppe

Wenngleich im Laufe der Jahrhunderte so manche Schätze abhanden gekommen sind, so ereigneten sich doch auch ganz unverhoffte, einmalige Schatzfunde: 1984, bei Abrissarbeiten auf dem Grundstück der Musikhochschule, grub ein Baggerführer plötzlich Gold- und Silbermünzen aus. Wie sich herausstellte, waren es genau 20.000 Silbermünzen und 300 Goldmünzen. Ein Kaufmann, der in den 1530er Jahren auf dem jetzigen Grundstück der Musikhochschule einen Speicher gemietet hatte, vergrub sein Vermögen dort unter der Haustreppe und hat es nie wieder hervorgeholt. Schließlich ging der Schatz an den Besitzer des Grundstückes, das Land Schleswig-Holstein. Der Baggerführer, immerhin Finder des größten Münzschatzes überhaupt auf deutschem Boden, wurde mit einer Viertel Million Mark abgefunden.

Ähnlich wie die Münzen dieses sagenhaften Schatzes, die aus Spanien, Skandinavien und dem Mittelmeerraum stammten, sind auch die Lübecker Münzen in der Welt herumgekommen: Als wäre es gestern, erinnert sich Dr. Dieter Dummler an seine Freude und Überraschung, als er während einer Argentinien-Reise in Buenos Aires einen kleinen Laden mit der Aufschrift „Moneta“ betrat und auf eine Sammlung von 60 unterschiedlichen Lübecker Münzen stieß. Offenbar gibt es auch am anderen Ende der Welt Menschen, die diese Begeisterung für Lübecker Münzen teilen. Dr. Dummler wundert das nicht: „Die Münzen sind wie eine Fiebererkrankung“, schmunzelt er. „Man bekommt nie genug und möchte immer mehr wissen.“

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Das Zwickelbier mit Tradition https://www.studentenpack.de/index.php/2012/07/das-zwickelbier-mit-tradition/ https://www.studentenpack.de/index.php/2012/07/das-zwickelbier-mit-tradition/#respond Mon, 16 Jul 2012 14:00:44 +0000 http://www.studentenpack.uni-luebeck.de/?p=36321
Philipp Bohnenstengel | StudentenPACK.

Brauen, mitten in der Schankstube

Drei Liter Bier am Tag, gezahlt von der Stadt. Das ganze Leben lang. Klingt nach dem Traum jedes Studenten, war aber die Realität im 15. Jahrhundert. Fast 200 Brauereien versorgten die gut 20.000 Bürger der Hansestadt Lübeck täglich mit Bier. Drei Liter für jeden ob jung oder alt. Wasser genießbar zu machen war eine Herausforderung, aber die Bierherstellung hatte man gemeistert und so erhielt jeder Bürger seine rationierten drei Liter. Kinder noch mit kaum Alkohol, die alten Männer, und mit Mitte dreißig war man bereits ein alter Mann, konnten Bier mit bis zu 16 Prozent Alkohol genießen.

Dies sind die Geschichten, die man zu hören bekommt, wenn man im Brauberger, der letzten verbliebenen Brauerei Lübecks, ein Tour mitmacht. In den 800 Jahre alten Gewölben, dort wo einmal die Stadtmauer stand, erhält man eine Einführung in die Geschichte des beliebten Getränks bevor man zu sehen bekommt, wie es gemacht wird. Denn im Brauberger macht man das Bier nicht nur selbst, man macht es mitten in der Gaststätte.

Modern und Traditionsbewusst

Heute hat das Bier keine 16 Prozent mehr, lediglich 4,5 Prozent. Das hat hauptsächlich gesetzliche Gründe. Natürlich ist auch die Brautechnik moderner geworden, aber davon abgesehen macht man Bier noch immer wie vor 500 Jahren, das deutsche Reinheitsgebot lässt es gar nicht anders zu. Wasser, Gerste, Hopfen, Hefe. Mehr nicht. Das gilt selbstverständlich auch im Brauberger. Das Gebäude selbst ist nicht so alt wie sein Keller, aber es hat immerhin auch schon über 100 Jahre auf dem Giebel. Von 1919 bis 1983 beherbergte es eine Eisenwarengroßhandlung namens „Vageler & Christiansen“, deren Namen zur allgemeinen Verwirrung immernoch die Fasade des Hauses ziert. Seit 1989 findet sich hinter dieser Aufschrift die Gaststätte Brauberger.

Wer das Brauberger betritt, sieht als erstes die großen Kupferkessel, einer davon ist der Sudkessel. Der Kessel fasst 1000 Liter und hier beginnt die Bierherstellung. Neben dem Wasser wird Malz hinzugefügt, eine Art Gerstenschrot. Dies wird auf 60°C erhitzt und es entstehen Stärke und Zucker, „Maischen“ nennt sich das. Weiter geht es im zweiten großen Behälter in der Gaststätte, dem im oberen Stockwerk. Im sogenannten Läuterbottich, einem großen Filter, trennen sich Malztreber (das, was von der Gerste übrig blieb) und die Flüssigkeit, die jetzt Bierwürze heißt. Der feste Teil spielt für das Bier keine Rolle mehr, taugt aber als Tierfutter, regelmäßig holt daher ein Bauer die Malztreber ab.

Die Bierwürze fließt wieder in den unteren Behälter, wo sie zum Kochen gebracht wird und der Hopfen beigegeben wird. Schlussendlich geht es in den Kühlraum. Dort kommt die Hefe hinzu und das Bier wird auf 10°C für eine Woche in Gärtanks gelagert. Die Hefe kann man immer wieder benutzen, sie setzt sich am Boden des Tanks ab, da es sich um eine untergärige Hefe handelt. Nach etwa sieben Tagen wechselt das werdende Bier noch einmal den Tank. In den Lagertanks verbringt es noch einmal vier Wochen bis es bereit ist, getrunken zu werden.

Nur im Brauberger

Das Resultat der Bemühungen kann man nur an einem Ort kaufen, im Brauberger selbst. Nirgends sonst steht das Bier zum Verkauf. Immerhin, 60.000 Liter gehen dort jedes Jahr über den Tisch, im Winter übrigens mehr als im Sommer. Das Bier sieht trüber aus als man es aus dem Supermarkt gewohnt ist. Das liegt mit daran, dass noch etwas Hefe im Bier verbleibt. Man nennt ein solches Bier ein Zwickelbier, ein ungefiltertes, naturtrübes Bier, welches direkt nach dem Nachgärungsprozess ausgeschenkt wird.

Die Herstellung ist natürlich teurer als in großen Brauereien und die Produktionskosten für einen Liter Bier liegen bei über einem Euro. Damit wird man zwar nicht Millionär, aber es reicht um das Brauberger, die letzte Brauerei der Hansestadt, am Leben zu halten.

Wer das Zwickelbier des Braubergers ausprobieren möchte kann dies montags bis samstags ab 17 Uhr tun, dann hat das Brauberger geöffnet. Zum Bier gibt es herzhaftes Essen und dienstags ein All you can eat-Buffet.

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Wenn eine Schutzmaßnahme zur Katastrophe wird https://www.studentenpack.de/index.php/2012/06/wenn-eine-schutzmasnahme-zur-katastrophe-wird/ https://www.studentenpack.de/index.php/2012/06/wenn-eine-schutzmasnahme-zur-katastrophe-wird/#respond Wed, 06 Jun 2012 05:00:54 +0000 http://www.studentenpack.uni-luebeck.de/?p=19111 Wir schreiben das Jahr 1930. Genauer gesagt den 24. Februar 1930. Es war ein Montag, der die Lübecker Geschichte und sogar die Geschichte ganz Deutschlands nachhaltig verändern sollte – doch auf eine ganz andere Art und Weise als das eigentlich geplant war.

Die Geschichte vom „kleinen Geschwulst“

Es war einmal ein Homo erectus, der lebte vor 500.000 Jahren in der Türkei. Doch dies war kein gewöhnlicher Homo erectus, denn der Ärmste litt an einer Hirnhautentzündung – ausgelöst durch Tuberkulose.

Bis heute ist dies der erste nachgewiesene Fall von Tuberkulose überhaupt. Doch von diesem Einzelfall aus trat die Infektionskrankheit, die durch gerade einmal 2 µm große Bakterien ausgelöst wird, einen beeindruckenden Feldzug durch die verschiedenen Epochen der Geschichte an. Von dem Alten Ägypten, über das dunkle Mittelalter bis hin zur Neuzeit – die Tuberkulose machte vor keiner Kultur, vor keiner Gesellschaftsschicht, vor nichts und niemandem Halt.

Übertragen werden die Tuberkulose auslösenden Mykobakterien durch Tröpfcheninfektion. Dies führt unweigerlich zu dem Grundsatz: Je größer der Ballungsraum, desto größer die Infektionsgefahr. Somit ist es verständlich, dass mit dem rasanten Bevölkerungs- und Städtewachstum die Anzahl der an Tuberkulose erkrankten Menschen besonders im 18. und 19. Jahrhundert stark anstieg. Damalige Möglichkeiten den Patienten zu helfen, gab es quasi keine. Bis zu den Forschungsarbeiten von Robert Koch im Jahr 1882 kannte man noch nicht einmal die Ursache für die Krankheit, die so vielen Menschen in Europa wortwörtlich „den Atem raubte“.

In vielen Fällen löst eine Tuberkulose-Infektion keine Krankheit aus, da die Bakterien einfach nur eingekapselt werden und in dem Körper der infizierten Person ruhen. Daher stammt auch der Name „Tuberkulose“, der übersetzt in etwa „kleines Geschwulst“ bedeutet. Doch ist das Immunsystem erst einmal geschwächt, kann die Krankheit jederzeit ausbrechen. Das Bakterium zerstört die Lunge und teilweise auch andere Organe der Erkrankten. Für eine erfolgreiche Therapie sind Antibiotika unerlässlich, doch diese erlangten erst Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Einzug in die Medizin.

Am Anfang war die Forschung

Was man also brauchte, war eine sichere und erfolgsversprechende Präventivmaßnahme. Eine Impfung musste her. Und so machten sich der französische Arzt Albert Calmette und sein Kollege, der französische Bakteriologe Camille Guérin, im Jahr 1908 gemeinsam an die Arbeit. Geforscht wurde an Mycobacterium bovis, dem Auslöser der Rindertuberkulose. Auf Grund der Ähnlichkeit zu dem humanen Erreger war dies aber kein Problem. Viel eher war die Infektiosität des bovinen Mycobacteriums für den Menschen problematisch. Daher arbeiteten die beiden Franzosen ganze 13 Jahre daran, das Bakterium durch zahlreiche Passagen soweit zu verändern, dass von ihm keine Infektionsgefahr mehr ausging.

Im Jahr 1921 war es dann endlich soweit. Die so genannte BCG-Schutzimpfung kam auf den Markt, wobei der Name – wie könnte es auch anders sein – natürlich auf die beiden stolzen Forscher zurückging. Mit der oralen „Bacille Calmette-Guérin-Schutzimpfung“ wurden bis 1928 schon über 150.000 Kinder geimpft. Ein bis dahin großer Erfolg.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man sich in Deutschland mit der Einführung der BCG-Impfung jedoch noch vornehm zurückgehalten. Erst als es im Jahr 1928 zu einer offiziellen Empfehlung durch den Völkerbund für diese Schutzimpfung kam, zog auch Deutschland in Sachen Tuberkuloseprophylaxe nach. Ernst Altstaedt, Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes, und Georg Deycke, Direktor des Allgemeinen Krankenhauses, setzten sich dafür ein, dass unsere Hansestadt als erste Stadt in ganz Deutschland, die Schluckimpfung gegen Tuberkulose eingesetzt werden würde.

Ein Jahr nachdem die Entscheidung für die BCG-Impfung gefallen war, traf die Impf-Kultur aus Paris ein. Bevor der Impfstoff jedoch einsatzbereit war, mussten die Kulturen noch entsprechend verarbeitet werden. Eine Aufgabe, die die Krankenschwester Anna Schütze damals übernahm.

Am 24. Februar 1930, sieben Monate nach Eintreffen der Kultur aus Paris, war es dann soweit. Die Impfung gegen Tuberkulose wurde in Lübeck offiziell eingeführt. Innerhalb der ersten zwei Monate wurden insgesamt 256 Neugeborenen die neuartige Schluckimpfung verabreicht – ein Großteil aller Neugeborenen in Lübeck zu dieser Zeit. Die Idee dahinter war simpel. Tuberkulose galt auch in Deutschland als gefährliche und verbreitete Krankheit. Gelang es mit der neuen Impfung möglichst viele Menschen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu treffen, könnte so die Verbreitung von Tuberkulose möglichst effektiv verhindert werden. Doch alles kam ganz anders, als gedacht.

Das Unglück nimmt seinen Lauf

Es war der 17. April 1930, als sich zum ersten Mal andeutete, dass bei der BCG-Schutzimpfung irgendetwas ganz fürchterlich falsch gegangen sein könnte. Ein Baby, das zuvor die Impfung erhalten hatte, starb an diesem Tag an Tuberkulose. Es sollte nicht das Einzige bleiben.

In den Folgetagen starben drei weitere Säuglinge. Alle drei hatten vorab die neuartige Impfung erhalten. Alle drei starben an Tuberkulose. Am 26. April sah sich Georg Deycke daher zum Handeln gezwungen. Umgehend stellte er die Impfung von Neugeborenen ein. Doch für 73 weiter Neugeborene kam diese Entscheidung zu spät. Von den insgesamt 256 Impflingen erkrankten ganze 208 an Tuberkulose.

Doch was war geschehen? An der BCG-Kultur selbst konnte es nicht gelegen haben – schließlich belegte eine mehrjährige positive Erfahrung mit dem attenuierten Impfstoff in ganz Europa dessen Ungefährlichkeit für die Impflinge. So verblieb nur eine einzige alternative Erklärung: Es musste zu einer Verunreinigung des Impfstoffes gekommen sein. Und zwar in Lübeck. Genauer gesagt in dem Labor Georg Deyckes, in dem die BCG-Kultur von Anna Schütze zu Impfstoff verarbeitet worden war.

Damals, im Jahr 1929, arbeitete man in Lübeck nicht nur mit der BCG-Kultur, sondern ebenfalls mit infektiösen Tuberkuloseerregern – in demselben Labor. Spezielle Sicherheitsmaßnahmen? Räumliche Trennung der beiden Arbeitsbereiche? Fehlanzeige. Die Gefahr einer möglichen Verunreinigung der Impf-Kultur wurde vollkommen unterschätzt.

Doch wieso kam die Verunreinigung erst so spät ans Licht? Hätten vor der tatsächlichen Einführung des Impfstoffes in Lübeck nicht umfassende Tests durchgeführt werden müssen, die die Unbedenklichkeit der Impfung belegt hätten? Theoretisch schon. Ein Tierversuch wäre in diesem Fall eigentlich ein Muss gewesen. Doch Deycke und Altstaedt, die beiden Verantwortlichen für die Einführung der Schutzimpfung in Lübeck, verzichteten darauf. Sie vertrauten dem Impfstoff. Sie vertrauten ihm sogar so sehr, dass sie auch auf die obligatorische Kontrolluntersuchung nach der Impfung verzichteten. Einzig und allein ein Test, der die Wirksamkeit der Schutzimpfung nachweisen sollte, war geplant – jeweils sechs Monate nach der Impfung.

Der Calmette-Prozess

Jedes große Unglück verlangt nach Menschen, die dafür zur Verantwortung gezogen werden. Das „Lübecker Impfunglück“ stellt da keine Ausnahme dar. So kam es im Oktober 1931 zur Eröffnung des sogenannten Calmette-Prozesses. Verhandelt wurde vor dem Lübecker Landgericht. Auf der Anklagebank saßen niemand Geringeres als Georg Deycke und Ernst Altstaedt. Schließlich war es Deycke, der das Labor zur Herstellung des Impfstoffes zur Verfügung gestellt hatte. Und es war Altsteadt, der auf die Kontrolluntersuchungen der Impflinge verzichtete und sich gemeinsam mit Deycke gegen einen Tierversuch entschieden hatte.

Das Urteil fiel nach 76 Verhandlungstagen. Mit einer Gefängnisstrafe von 24 Monaten für Krankenhaus-Direktor Georg Deycke und 15 Monaten für den Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes, Ernst Altstaedt, endete der Calmette-Prozess. Die Ereignisse aus dem Jahr 1930 gingen als das „Lübecker Impfunglück“ in die Geschichte ein. Doch das Thema der Tuberkulose-Schutzimpfung endete damit noch lange nicht.

In Deutschland vergingen viele Jahre – es war schon nach dem zweiten Weltkrieg – bis die BCG-Impfung schließlich großflächig eingeführt wurde. Doch 1998 war es damit auch schon wieder vorbei. Heutzutage gehört die Präventivmaßnahme gegen Tuberkulose nicht länger zum Standard in Deutschland. Der Grund dafür? Einerseits macht es die geringe Prävalenz von Tuberkulose in Deutschland nicht länger notwendig, alle Säuglinge systematisch gegen Tuberkulose zu impfen. Doch andererseits ist der Impfstoff, wie man jetzt weiß, nur sehr eingeschränkt dazu geeignet, eine Tuberkulose-Erkrankung tatsächlich zu verhindern. Vielmehr bietet die Impfung einen Schutz vor den gefährlichen Nebenwirkungen der Erkrankung – wie zum Beispiel einer Hirnhautentzündung, wie sie unser Homo Erectus hatte. Da die BCG-Impfung jedoch auch heute immer noch gewisse Nebenwirkungen mit sich bringt, wird nun in den meisten Fällen auf eine Impfung verzichtet.

Doch das war nicht die einzige Auswirkung, die man in Deutschland aufgrund des „Lübecker Impfunglücks“ spüren konnte. Von ganz entscheidender Bedeutung war die Katastrophe für das heutige Medizinrecht, in dem unter anderem die Arzthaftung geregelt wird. Weiterhin hatten die Ereignisse 1930 auch Auswirkungen auf die alltägliche Arbeit im Labor. Neue Sicherheitsstandards wurden eingeführt, die eine Wiederholung des „Lübecker Impfunglücks“ unmöglich machen sollen.

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Wenn eine Schutzmaßnahme zur Katastrophe wird https://www.studentenpack.de/index.php/2012/06/wenn-eine-schutzmassnahme-zur-katastrophe-wird/ https://www.studentenpack.de/index.php/2012/06/wenn-eine-schutzmassnahme-zur-katastrophe-wird/#respond Wed, 06 Jun 2012 05:00:54 +0000 http://www.studentenpack.de/?p=234362 Wir schreiben das Jahr 1930. Genauer gesagt den 24. Februar 1930. Es war ein Montag, der die Lübecker Geschichte und sogar die Geschichte ganz Deutschlands nachhaltig verändern sollte – doch auf eine ganz andere Art und Weise als das eigentlich geplant war.

Die Geschichte vom „kleinen Geschwulst“

Es war einmal ein Homo erectus, der lebte vor 500.000 Jahren in der Türkei. Doch dies war kein gewöhnlicher Homo erectus, denn der Ärmste litt an einer Hirnhautentzündung – ausgelöst durch Tuberkulose.

Bis heute ist dies der erste nachgewiesene Fall von Tuberkulose überhaupt. Doch von diesem Einzelfall aus trat die Infektionskrankheit, die durch gerade einmal 2 µm große Bakterien ausgelöst wird, einen beeindruckenden Feldzug durch die verschiedenen Epochen der Geschichte an. Von dem Alten Ägypten, über das dunkle Mittelalter bis hin zur Neuzeit – die Tuberkulose machte vor keiner Kultur, vor keiner Gesellschaftsschicht, vor nichts und niemandem Halt.

Übertragen werden die Tuberkulose auslösenden Mykobakterien durch Tröpfcheninfektion. Dies führt unweigerlich zu dem Grundsatz: Je größer der Ballungsraum, desto größer die Infektionsgefahr. Somit ist es verständlich, dass mit dem rasanten Bevölkerungs- und Städtewachstum die Anzahl der an Tuberkulose erkrankten Menschen besonders im 18. und 19. Jahrhundert stark anstieg. Damalige Möglichkeiten den Patienten zu helfen, gab es quasi keine. Bis zu den Forschungsarbeiten von Robert Koch im Jahr 1882 kannte man noch nicht einmal die Ursache für die Krankheit, die so vielen Menschen in Europa wortwörtlich „den Atem raubte“.

In vielen Fällen löst eine Tuberkulose-Infektion keine Krankheit aus, da die Bakterien einfach nur eingekapselt werden und in dem Körper der infizierten Person ruhen. Daher stammt auch der Name „Tuberkulose“, der übersetzt in etwa „kleines Geschwulst“ bedeutet. Doch ist das Immunsystem erst einmal geschwächt, kann die Krankheit jederzeit ausbrechen. Das Bakterium zerstört die Lunge und teilweise auch andere Organe der Erkrankten. Für eine erfolgreiche Therapie sind Antibiotika unerlässlich, doch diese erlangten erst Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Einzug in die Medizin.

Am Anfang war die Forschung

Was man also brauchte, war eine sichere und erfolgsversprechende Präventivmaßnahme. Eine Impfung musste her. Und so machten sich der französische Arzt Albert Calmette und sein Kollege, der französische Bakteriologe Camille Guérin, im Jahr 1908 gemeinsam an die Arbeit. Geforscht wurde an Mycobacterium bovis, dem Auslöser der Rindertuberkulose. Auf Grund der Ähnlichkeit zu dem humanen Erreger war dies aber kein Problem. Viel eher war die Infektiosität des bovinen Mycobacteriums für den Menschen problematisch. Daher arbeiteten die beiden Franzosen ganze 13 Jahre daran, das Bakterium durch zahlreiche Passagen soweit zu verändern, dass von ihm keine Infektionsgefahr mehr ausging.

Im Jahr 1921 war es dann endlich soweit. Die so genannte BCG-Schutzimpfung kam auf den Markt, wobei der Name – wie könnte es auch anders sein – natürlich auf die beiden stolzen Forscher zurückging. Mit der oralen „Bacille Calmette-Guérin-Schutzimpfung“ wurden bis 1928 schon über 150.000 Kinder geimpft. Ein bis dahin großer Erfolg.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man sich in Deutschland mit der Einführung der BCG-Impfung jedoch noch vornehm zurückgehalten. Erst als es im Jahr 1928 zu einer offiziellen Empfehlung durch den Völkerbund für diese Schutzimpfung kam, zog auch Deutschland in Sachen Tuberkuloseprophylaxe nach. Ernst Altstaedt, Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes, und Georg Deycke, Direktor des Allgemeinen Krankenhauses, setzten sich dafür ein, dass unsere Hansestadt als erste Stadt in ganz Deutschland, die Schluckimpfung gegen Tuberkulose eingesetzt werden würde.

Ein Jahr nachdem die Entscheidung für die BCG-Impfung gefallen war, traf die Impf-Kultur aus Paris ein. Bevor der Impfstoff jedoch einsatzbereit war, mussten die Kulturen noch entsprechend verarbeitet werden. Eine Aufgabe, die die Krankenschwester Anna Schütze damals übernahm.

Am 24. Februar 1930, sieben Monate nach Eintreffen der Kultur aus Paris, war es dann soweit. Die Impfung gegen Tuberkulose wurde in Lübeck offiziell eingeführt. Innerhalb der ersten zwei Monate wurden insgesamt 256 Neugeborenen die neuartige Schluckimpfung verabreicht – ein Großteil aller Neugeborenen in Lübeck zu dieser Zeit. Die Idee dahinter war simpel. Tuberkulose galt auch in Deutschland als gefährliche und verbreitete Krankheit. Gelang es mit der neuen Impfung möglichst viele Menschen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu treffen, könnte so die Verbreitung von Tuberkulose möglichst effektiv verhindert werden. Doch alles kam ganz anders, als gedacht.

Das Unglück nimmt seinen Lauf

Es war der 17. April 1930, als sich zum ersten Mal andeutete, dass bei der BCG-Schutzimpfung irgendetwas ganz fürchterlich falsch gegangen sein könnte. Ein Baby, das zuvor die Impfung erhalten hatte, starb an diesem Tag an Tuberkulose. Es sollte nicht das Einzige bleiben.

In den Folgetagen starben drei weitere Säuglinge. Alle drei hatten vorab die neuartige Impfung erhalten. Alle drei starben an Tuberkulose. Am 26. April sah sich Georg Deycke daher zum Handeln gezwungen. Umgehend stellte er die Impfung von Neugeborenen ein. Doch für 73 weiter Neugeborene kam diese Entscheidung zu spät. Von den insgesamt 256 Impflingen erkrankten ganze 208 an Tuberkulose.

Doch was war geschehen? An der BCG-Kultur selbst konnte es nicht gelegen haben – schließlich belegte eine mehrjährige positive Erfahrung mit dem attenuierten Impfstoff in ganz Europa dessen Ungefährlichkeit für die Impflinge. So verblieb nur eine einzige alternative Erklärung: Es musste zu einer Verunreinigung des Impfstoffes gekommen sein. Und zwar in Lübeck. Genauer gesagt in dem Labor Georg Deyckes, in dem die BCG-Kultur von Anna Schütze zu Impfstoff verarbeitet worden war.

Damals, im Jahr 1929, arbeitete man in Lübeck nicht nur mit der BCG-Kultur, sondern ebenfalls mit infektiösen Tuberkuloseerregern – in demselben Labor. Spezielle Sicherheitsmaßnahmen? Räumliche Trennung der beiden Arbeitsbereiche? Fehlanzeige. Die Gefahr einer möglichen Verunreinigung der Impf-Kultur wurde vollkommen unterschätzt.

Doch wieso kam die Verunreinigung erst so spät ans Licht? Hätten vor der tatsächlichen Einführung des Impfstoffes in Lübeck nicht umfassende Tests durchgeführt werden müssen, die die Unbedenklichkeit der Impfung belegt hätten? Theoretisch schon. Ein Tierversuch wäre in diesem Fall eigentlich ein Muss gewesen. Doch Deycke und Altstaedt, die beiden Verantwortlichen für die Einführung der Schutzimpfung in Lübeck, verzichteten darauf. Sie vertrauten dem Impfstoff. Sie vertrauten ihm sogar so sehr, dass sie auch auf die obligatorische Kontrolluntersuchung nach der Impfung verzichteten. Einzig und allein ein Test, der die Wirksamkeit der Schutzimpfung nachweisen sollte, war geplant – jeweils sechs Monate nach der Impfung.

Der Calmette-Prozess

Jedes große Unglück verlangt nach Menschen, die dafür zur Verantwortung gezogen werden. Das „Lübecker Impfunglück“ stellt da keine Ausnahme dar. So kam es im Oktober 1931 zur Eröffnung des sogenannten Calmette-Prozesses. Verhandelt wurde vor dem Lübecker Landgericht. Auf der Anklagebank saßen niemand Geringeres als Georg Deycke und Ernst Altstaedt. Schließlich war es Deycke, der das Labor zur Herstellung des Impfstoffes zur Verfügung gestellt hatte. Und es war Altsteadt, der auf die Kontrolluntersuchungen der Impflinge verzichtete und sich gemeinsam mit Deycke gegen einen Tierversuch entschieden hatte.

Das Urteil fiel nach 76 Verhandlungstagen. Mit einer Gefängnisstrafe von 24 Monaten für Krankenhaus-Direktor Georg Deycke und 15 Monaten für den Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes, Ernst Altstaedt, endete der Calmette-Prozess. Die Ereignisse aus dem Jahr 1930 gingen als das „Lübecker Impfunglück“ in die Geschichte ein. Doch das Thema der Tuberkulose-Schutzimpfung endete damit noch lange nicht.

In Deutschland vergingen viele Jahre – es war schon nach dem zweiten Weltkrieg – bis die BCG-Impfung schließlich großflächig eingeführt wurde. Doch 1998 war es damit auch schon wieder vorbei. Heutzutage gehört die Präventivmaßnahme gegen Tuberkulose nicht länger zum Standard in Deutschland. Der Grund dafür? Einerseits macht es die geringe Prävalenz von Tuberkulose in Deutschland nicht länger notwendig, alle Säuglinge systematisch gegen Tuberkulose zu impfen. Doch andererseits ist der Impfstoff, wie man jetzt weiß, nur sehr eingeschränkt dazu geeignet, eine Tuberkulose-Erkrankung tatsächlich zu verhindern. Vielmehr bietet die Impfung einen Schutz vor den gefährlichen Nebenwirkungen der Erkrankung – wie zum Beispiel einer Hirnhautentzündung, wie sie unser Homo Erectus hatte. Da die BCG-Impfung jedoch auch heute immer noch gewisse Nebenwirkungen mit sich bringt, wird nun in den meisten Fällen auf eine Impfung verzichtet.

Doch das war nicht die einzige Auswirkung, die man in Deutschland aufgrund des „Lübecker Impfunglücks“ spüren konnte. Von ganz entscheidender Bedeutung war die Katastrophe für das heutige Medizinrecht, in dem unter anderem die Arzthaftung geregelt wird. Weiterhin hatten die Ereignisse 1930 auch Auswirkungen auf die alltägliche Arbeit im Labor. Neue Sicherheitsstandards wurden eingeführt, die eine Wiederholung des „Lübecker Impfunglücks“ unmöglich machen sollen.

Lukas Ruge | StudentenPACK.

Am Anfang war ein kleiner Stich, am Ende eine riesige Katastrophe.

Ein Sprung ins Jahr 2012

Doch wo stehen wir heute? Mittlerweile sind über 80 Jahre vergangen, seitdem es in Lübeck zu dem größten Impfskandal des 20. Jahrhunderts gekommen war. In Vergessenheit geraten sind die Ereignisse von 1930 bis heute jedoch nicht. Vorträge und Berichte erinnern regelmäßig an das Unglück. Aber wie sieht es mit der Tuberkulose selbst aus? In Deutschland ist die Gefahr größtenteils gebannt, aber was ist mit dem Rest der Welt? Wie steht es um Therapieansätze? Oder um die Entwicklung einer alternativen, tatsächlich hochwirksamen Schutzimpfung gegen Tuberkulose?

Seit einigen Jahren ist Tuberkulose wieder auf dem Vormarsch. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass gegenwärtig ein Drittel der Weltbevölkerung infiziert ist. Auch wenn der Ausbruch der Krankheit nur bei wenigen Prozent der Infizierten tatsächlich stattfindet, starben im Jahr 2008 schätzungsweise 1,8 Millionen Menschen an Tuberkulose. Besonders in Asien und in Afrika ist die Zahl der Neuinfektionen hoch. Und von dort aus reist das Bakterium um die ganze Welt. Per Flugzeug. Doch wie kommt es zu diesen Zahlen, wo seit Mitte des 20. Jahrhunderts doch Antibiotika zur Therapie eingesetzt werden können?

Das eigentliche Problem, wie bei so vielen Krankheiten in letzter Zeit, liegt in der weit verbreiteten Resistenz der Mykobakterien. Die Teilung der Bakterien erfolgt verhältnismäßig langsam. Außerdem ermöglicht ihnen eine Ruheform das lange Überleben in dem befallenen Organismus. Damit sich ein Therapie-Erfolg einstellt, ist es daher bedeutsam, dass entsprechende Antibiotika besonders lange und sorgfältig eingenommen werden. Eine denkbar schlechte Ausgangsposition, wenn es darum geht, Resistenzen lange zu verhindern.

Insgesamt gibt es fünf verschiedene Antibiotika, die bei einer Tuberkulose-Infektion zum Einsatz kommen. Gegen alle Fünf haben die Mykobakterien mittlerweile Resistenzen entwickelt. Und auch multiresistente Keime sind bisher schon aufgetreten. Zuletzt sogar eine Form mit gleich fünffacher Resistenz.

Die hohen Zahlen jährlicher Neuinfektionen und die zunehmend auftretende Antibiotika-Resistenz der Tuberkulose-Erreger ist mehr als nur ein einfaches Argument für die Forschung an einem hochwirksamen Impfstoff. Selbst bei uns, an der Uni und am Forschungszentrum Borstel, forscht man momentan an den Mykobakterien. Doch bisher hat noch kein neuer effektiverer Impfstoff gegen Tuberkulose seinen Einzug in den klinischen Alltag geschafft.

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Die alte Seefahrtschule https://www.studentenpack.de/index.php/2012/01/die-alte-seefahrtschule/ https://www.studentenpack.de/index.php/2012/01/die-alte-seefahrtschule/#comments Mon, 16 Jan 2012 10:55:59 +0000 http://www.studentenpack.uni-luebeck.de/?p=2188 unbekannter Fotograf

„Wie kommt man denn zur alten Seefahrtschule?“, war häufig die Frage der Erstsemester, wenn in den Mathematik-Vorlesungen die Übungsgruppen bekannt gegeben wurden, denn die meisten Übungen und vertiefenden mathematischen Veranstaltungen fanden bis zum Wintersemester 2010/2011 dort statt. Bereits seit dem Sommersemester finden die meisten Übungen nun allerdings in den Seminarräumen auf dem Campus statt und in diesem Semester wurde nur noch eine Vorlesung in den Hörsälen der Seefahrtschule gehalten. Die größeren Vorlesungen, also Analysis und Lineare Algebra, finden schon lange auf dem Campus statt, denn in der Seefahrtschule sind lediglich drei kleine Hörsäle untergebracht. Sie liegt in den südlichen Wallanlagen der Altstadtinsel zwischen dem Mühlenteich und dem Elbe-Lübeck-Kanal. Die Auffahrt zur Seefahrtschule versteckt sich zwischen der Mühlenbrücke und der Wallstraße und führt hinauf auf die Wallanlagen.

Geht man am Kanal zu Fuß entlang, so erblickt man erst das Kaisertor, auf dem die alte Seefahrtschule erbaut worden ist. Dieses stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist eines der kleineren Tore zur Stadt gewesen, welches wahrscheinlich nach seinem Erbauer benannt ist. Es wurde jedoch im 16. Jahrhundert zugeschüttet und darauf Wallanlagen errichtet. Wesentlicher Zugang zur Stadt ist zu der Zeit das nahegelegene Mühlentor gewesen, das ebenso wie das Holstentor aus 3 Toren bestand und dessen inneres Tor etwa auf der Höhe des alten Zolln stand. Auf den Grundmauern des zum Teil abgetragenen Kaiserturms wurde 1826 das „Gebäude zur Lehranstalt für die Schifffahrtskunde“ errichtet und die 1808 gegründete Navigationsschule zog dort ein. Der heutige Bau stammt etwa aus dem Jahr 1900. Während der Bauarbeiten am Elbe-Lübeck-Kanal, in den 3 Jahren davor, wurde das Kaisertor wieder freigelegt. Als Durchgang zur Wallstraße wurde das Kaisertor auch für die Festlichkeiten zur Eröffnung des Kanals genutzt. In der Seefahrtschule wurden Seeleute und Steuermänner, Kapitäne und Piloten sowie Seefunker und Maschinisten ausgebildet, wobei während des zweiten Weltkriegs die letzten beiden Studiengänge eingestellt waren. 1969 erfolgte eine Teilung der Seefahrtschule, da der Fachbereich Seefahrt an der im selben Jahr gegründeten Fachhochschule einen Teil der Studiengänge übernahm. Schließlich wurde die Seefahrtschule Lübeck 1993 nach Flensburg verlegt.

Ebenfalls im Jahr 1993 wurde an der Universität zu Lübeck (damals noch Medizinische Universität zu Lübeck) der Diplomstudiengang Informatik eingerichtet. Die drei ersten Institute, die nach dem Gründungsinstitut (medizinische Informatik von Prof. Dr. em. Pöppl) entstehen, ziehen in die nun leerstehende Seefahrtschule ein. So teilen sich das Institut für theoretische Informatik (Prof. Dr. Reischuk), das Institut für praktische Informatik (Prof. Dr. Linnemann) und das Institut für Mathematik (Prof. Dr. Lasser) ab 1994 die Räume der alten Seefahrtschule. In das alte Direktorenzimmer mit der Veranda zieht die Bibliothek ein und aus den drei alten Klassenzimmmern werden kleine Hörsäle. Damit ist die alte Seefahrtschule neben dem Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung (IMGWF) in der Königstraße der zweite Standort der Universität zu Lübeck in der Altstadt. Die Einrichtung der Seefahrtschule steht schon damals unter Denkmalschutz, so dass die alten Schränke mit Instrumenten nicht nur erhalten bleiben müssen, sondern an ihren ursprünglichen Plätzen bestehen bleiben. Dadurch ist etwa auf dem Flur im neueren (östlichen) Teil der Seefahrtschule ein alter Schrank mit physikalischen und chemischen Apparaturen. Auch in einigen Büros – etwa dem von PD Dr. Teichert – stehen nautische Instrumente und ein alter Schreibtisch, der trotz seines Alters weiterhin genutzt werden darf. Im kleinsten der Hörsäle, dem ebenfalls im östlichen Teil gelegenen Hörsaal 3, ist sogar noch die alte Einrichtung mit Schulbänken und einem großen Transformator vorhanden. In den Abseiten stehen außerdem alte Funkgeräte und Globen, sowie Karten, -ständer und Navigationsgeräte. Neben den drei Instituten bleibt ein Bereich der Seefahrtschule dem norddeutschen Rundfunk vorbehalten, der auf den Wallanlagen direkt neben der Seefahrtschule einen Sendemast betreibt.

Mit der Zeit entstehen weitere Institute der Informatik, die zunächst in der Seelandstraße in Kücknitz untergebracht werden. Eine Ausnahme bildet das Institut für technische Informatik, das in der alten Küche des Universitätsklinikums, dem Haus 33, unterkommt. Mit der Fertigstellung des zunächst nur 2-stöckigen Informatik-Gebäudes (Gebäude 64) auf dem Campus ziehen im Jahr 2004 sämtliche Institute der Informatik auf den Campus. In der Seefahrtschule bleibt lediglich das Institut für Mathematik. Die Grundlagenvorlesungen finden zu der Zeit schon auf dem Campus statt, denn für die etwa 200 Erstsemester der Studiengänge Informatik, CLS (heute MML) und MLS reichen selbst die dortigen Hörsäle V1 und V2 nur knapp. Nach dem Bau des Audimax von 2004 bis 2008 beginnt im Jahr 2009 die Erweiterung des Informatik-Gebäudes. Rundherum wird eine gesamte Etage auf das Gebäude gesetzt: Der Rundbogen erhält eine zweite Etage, die beiden Flügel eine Dritte. Vorgesehen war diese Etage schon 2004, doch fehlten damals die Gelder. So begleitet Baulärm bis Ende 2010 den Wissenschafts- und Lehrbetrieb im Informatikgebäude.

In der Seefahrtschule bleibt es ruhig. Zwar sind zwischenzeitig brandschutzbedingt 2008 einige Türen in den Fluren nachgerüstet worden, davon abgesehen gibt es allerdings seit einigen Jahren störende Mängel am Gebäude, wie etwa Schimmel in den Kellerwänden des östlichen Teils, wo die Toiletten untergebracht sind. Nicht nur deswegen, sondern auch, um die Wege zu verkürzen, ist einer der neuen Flügel für das Institut verplant. Im Januar 2010 wird aus der Arbeitsgruppe SAFIR um Prof. Dr. Bernd Fischer das Institute of Mathematical Image Computing (MIC). Mit den Plänen, ein Frauenhofer-Institut zu werden, und somit einigen neuen Mitarbeitern wird es zunächst eng in der Seefahrtschule. Der Plan, die gesamten Mitarbeiter in der Mathematik in einem der neuen Flügel unterzubringen, ist damit nicht mehr realisierbar. Nach einigen Verhandlungen zieht das MIC im Mai 2011 in das Multifunktions-Center (MFC) 2 am Carlebachpark nahe des Universitätscampus.

Der Umzug des Instituts für Mathematik, der eigentlich für März 2011 angedacht war, verschiebt sich, da mit der Anschaffung und Planung der neuen Möbel einige Probleme auftreten. Abgesehen von ein paar Verwirrungen bezüglich der Räume für die Übungen im Sommersemester und der häufigen Frage, wann denn nun der Umzug sei, bleibt alles wie vorher: Zu Vorlesungen und Übungen auf dem Campus muss man zwar ein wenig Zeit einplanen, dafür bleiben den Mathematikern der schöne Ausblick und die Nähe zur Altstadt.

Zum ersten Dezember 2011 ist nun das Institut für Mathematik im dritten Stock des Gebäudes 64 eingezogen und die alte Seefahrtschule steht leer. Zwischenzeitig stand der Plan im Raum, die lübsche Polizei eine Weile dort unterzubringen, um das 1. Revier in der Mengstraße zu renovieren. Auch der Verein für Denkmalschutz überlegte, die alte Seefahrtschule zu übernehmen und ein Seminargebäude daraus zu machen, in dem dann Lehrgänge zu Denkmalpflege – eventuell auch am praktischen Beispiel des Gebäudes selbst – hätten stattfinden sollen. Aktuell sucht das Land Schleswig-Holstein nach einem Interessenten und bleibt derweil Eigentümer der alten Seefahrtschule. Besitzer der Seefahrtschule ist weiterhin die Universität zu Lübeck, behält also etwa vorerst die Schlüssel und die Pflichten, die ein Gebäude so mit sich bringt.

Als ich Anfang 2009 meinen ersten Schreibtisch in der Seefahrtschule bekam, um meine Diplomarbeit dort zu schreiben, stand schon fest, dass das Institut in absehbarer Zeit aus der Seefahrtschule ausziehen wird. Damals sagte ich scherzhaft, ich würde dann eine WG dort aufmachen, denn die Lage und der Ausblick sind wirklich schön, dann noch in einem über 110 Jahre altes Gebäude – meiner Meinung nach traumhaft. Natürlich ist eine WG in der Seefahrtschule kaum realisierbar, denn mit dem Denkmalschutz wären die notwendigen Umbauten kaum vereinbar. Bleibt zu hoffen, dass sich ein Weg findet, auf dem die alte Seefahrtschule renoviert wird und weiterhin als das erhalten bleibt, was sie – beziehungsweise der vorherige Bau – über 180 Jahre nun war: ein Ort der Lehre mit altem Charme, einer schönen Wallanlage drumherum am südlichen Ende der Altstadt.

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Von der Neuzeit direkt ins Mittelalter https://www.studentenpack.de/index.php/2010/06/von-der-neuzeit-direkt-ins-mittelalter/ https://www.studentenpack.de/index.php/2010/06/von-der-neuzeit-direkt-ins-mittelalter/#respond Wed, 02 Jun 2010 11:43:10 +0000 http://www.studentenpack.uni-luebeck.de/?p=1056
Lukas Ruge | StudentenPACK.

Grabungen in die Frühgeschichte Lübecks.

Unter dem Asphalt des ehemaligen Parkplatzes zwischen der Braunstraße und der Fischstraße beginnt das Mittelalter. Heiko Kräling zeigt auf Backsteine, die direkt unter der ehemaligen Straßendecke liegen; sie gehören zu mittelalterlichen Kellern. Zwei Gebäude haben hier gestanden, wo nun ein großes, weißes Zelt die Grabung vor Wind und Wetter schützt. Häuser aus Backstein, Hausnummer 30 und 32. Es ist das Gründerviertel von Lübeck, einige Meter nach Westen, an der Untertrave, befand sich der Hafen, den Hügel hinauf die Marienkirche, nicht in ihrer heutigen Gestalt, aber sicher schon ein imposantes Gebäude. Händler und Kaufleute wohnten hier vor 800 Jahren und haben ihre Spuren hinterlassen.

Unter den Steinmauern finden sich auch Holzwände und die Überreste eines Kellers der noch älter ist. Das Holzhaus aus dem zwölften Jahrhundert ist derzeit eine der spannendsten Entdeckungen der Forscher.

Hinter den Gebäuden finden die Archäologen Hinterhöfe, in ihnen große Steinkreise, die der Laie sofort als Brunnen identifizieren würde, tatsächlich handelt es sich um die Auffangräume mittelalterlicher Toiletten, sogenannte Kloaken. Kleine Klohäuser, gleichzeitig auch Aufbewahrungsschuppen, standen in den Hinterhöfen. Eine Toilette im Hinterhof ist eigentlich keine Sensation, wären nicht Objekte, die dort hineingeworfen wurden, durch das Versinken in den Fäkalien außergewöhnlich gut erhalten. Am Welttoilettentag, am 19. November, bieten die Archäologen Sonderführungen an. Ein solches Loch reichte dann meist für mehrere Generationen, danach wurden sie entweder entleert oder es wurde ein neues gegraben. In den Hinterhöfen finden sich eine ganze Reihe an solchen Kloaken.

Es sind nicht irgendwelche Häuser, nicht einmal irgendwelche Häuser des Lübecker Gründerviertels. Aus Versicherungspapieren und anderen Dokumenten geht hervor, dass die Grundstücke dem Vater von Hinrich Paternostermacher gehörten, der seinen Namen mit einem Aufstand 1384 gegen den Rat der Stadt Lübeck in den Geschichtsbüchern verewigte. Paternostermacher waren, wie ihr Name sagt, mit der Erstellung von Rosenkränzen beschäftigt, solche Bernsteinperlen wurden in den Toilettengruben gefunden und untermauern die Vermutung. Hinrich wird im Garten hinter diesen Häusern als Kind gespielt haben. Nach dem missglückten Aufstand wurde er nach seinem Selbstmord symbolisch hingerichtet.

Der Bereich zwischen Marienkirche und Untertrave war bei den Bombenangriffen auf Lübeck 1942 erheblich getroffen worden, so dass er in den fünfziger Jahren neu bebaut wurde. Schon lange hatte die Stadt gehofft, die dort entstandenen Schulen und Gebäude zu ersetzen, doch das Geld war knapp. Mit dem Konjunkturpaket II erhielt Lübeck 11,6 Millionen Euro für die Archäologie, von denen über neun Millionen in das Projekt Gründerviertel, welches die 9000 Quadratmeter Grabung zwischen Alfstraße und Braunstraße um das Internationale Studierendenwohnheim umfasst, fließen. Dabei sei der Abriss der zwei Schulen und der anderen Gebäude besonders teuer. Mit den verbleibenden Mitteln wollen die Archäologen nun bis in das Jahr 1143, und vielleicht sogar weiter zurück, graben.

Es ist die größte Ausgrabung in Lübecks ältestem und archäologisch bedeutsamsten Viertel, auch deshalb ein wichtiges Projekt für Lübecks obersten Archäologen Professor Dr. Manfred Gläser und seine Mitarbeiter vom Bereich Archäologie und Denkmalpflege Lübeck, die nun ein Stück UNESCO Weltkulturerbe freilegen. Denn nicht nur die gotischen Gebäude oberhalb der Straße wurden 1987 mit dem gesamten Stadtkern Lübecks mit diesem Titel belegt, auch Lübecks unterirdisches Erbe.

Um diese Arbeit erledigen zu können, wurden eine Reihe befristeter Stellen geschaffen, darunter in den Bereichen Grabungsleitung, Fotografie, Grafik, Restaurierung, Fundbergung, Inventarisierung und Archäo-Informatik.

Heiko Kräling ist ein solcher Archäoinformatiker und die detaillierte Dokumentation aller Funde und ihre Auswertung fallen in seinen Aufgabenbereich. Studiert hat er Vor- und Frühgeschichte in Marburg, ist also eigentlich Archäologe. Berührungsängste mit der Technologie hat er aber, anders als viele in seinem Fachbereich, nie gehabt. In verschiedenen Grabungen hat er sich das technische Wissen zugelegt, das ihn zum idealen Kandidaten für die Stelle in Lübeck machte. Denn erstmals wird in Lübeck diese Grabung nicht analog sondern digital vermessen und dokumentiert. Mit Hilfe von Lasermessgeräten, ähnlich denen, die jeder aus der Straßenvermessung kennt, wird die Grabung Schicht für Schicht vermessen. Detaillierte Fotos werden am Computer aneinander gefügt und mit den Messdaten verknüpft. So entsteht eine genaue Dokumentation. In einer speziell entwickelten Datenbank werden dazu alle Informationen abgespeichert. So kann jeder Fund genau einer Grabungsschicht und naheliegenden anderen Objekten zugeordnet werden.

Die Forscher werden unter den Augen der Öffentlichkeit arbeiten müssen. Das Gelände wird touristisch vermarktet. Immer Montags finden Führungen statt, für die man sich Karten im Rathaus abholen kann. Wer jetzt interessiert ist, muss sich leider gedulden: Zur Überraschung aller, auch der Archäologen, sind die Karten schon langfristig vergriffen.

2013 wird die Grabung ihr Ende finden und ein modernes Wohnviertel soll dort entstehen. Einiges mag in den Kellern erhalten bleiben, aber vieles wird verschwinden, schon deshalb ist die ausführliche Dokumentation so notwendig. Die Nachbereitung der Informationen sei noch keine beschlossene Sache. Finanzierungsanträge zur Auswertung der Grabungsergebnisse, sagt Heiko Kräling, wird es sicherlich geben, auch mit gewisser Aussicht auf Erfolg, aber immerhin wird alles dokumentiert.

 

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