Der Kinosaal 7 des CineStars ist pickepacke voll, als wir ankommen. Regisseurinnen und Regisseure sitzen unters Publikum gemischt in den Reihen. Wir sind gespannt, denn was hier zu erwarten ist, wissen wir nicht so recht. Wir sind beim Best of film schools der 59. Nordischen Filmtage Lübeck.
Die Filmemacherinnen und Filmemacher kommen von unterschiedlichen Hochschulen aus ganz Deutschland und sie haben jeweils einen Kurzfilm mitgebracht, der im Rahmen ihres Studiums entstanden ist. Der Grad der Erfahrung rangiert vom ersten Film überhaupt bis hin zum preisgekrönten Abschlussfilm eines postgraduierten Studiums. Ebenso groß ist die inhaltliche und formale Vielfalt der Werke. Wir wollten eine gemeinsame Kritik schreiben – einigen konnten wir uns nicht.
Die Lichter gehen an. Eine unbekannte Sprache. Eine Frau, eine Blume, zwei Kinder. Ein Instrument. Ein Schicksal. – Vorhang
In diesem aufwendig produzierten Animationsfilm arbeitet Ahmed Saleh ein echtes Ereignis auf. Der Film stellt die Geschichte zweier Jungen, die im Kriegsgebiet zurückgelassene Munition für Spielzeug gehalten und sich schwer verletzt hatten, berührend dar.
Ayny – My second Eye” eine Stop-Motion-Produktion zeigt auf eindrucksvolle Weise die Geschichte zweier durch eine Miene verletzten Jungen. Nicht nur die für den Film verwendeten Puppen wirken auf den Zuschauer als Figuren mit Zielen, Gefühlen und Sehnsüchten, sondern auch die Kamerafahrten zeigen eine eindeutige Identifikation mit dem Problemgebiet im nahen Osten.
AYNY – My Second Eye (Official Trailer) from Ahmad Saleh on Vimeo.
Das Rasseln eines Filmprojektors. Bildartefakte auf der Leinwand. Eine andere Zeit. Eine Zeit der Entbehrung. Ein Aphrodisiakum. – Vorhang
In dem Kurzfilm „The Ballad of Ralf and Heike“ von Manuel Ostwald wird in den 70er Jahren in einem Jugendzimmer in Ostberlin eine Rolling-Stones-Platte gehandelt. Heike will sie unbedingt haben und bietet Ralf an, ihm dafür ihre Brüste zu zeigen. Ralf tauscht all sein Geld und die Kamera seines Vaters ein, damit Heike die Platte bekommt. Heike zeigt ihre Brüste – aber nur extrem kurz. Glaube ich. Ich habe eine Viertelsekunde nicht hingeguckt.
Ralf und Heike sitzen in einem Zimmer in Ostdeutschland. Schüchtern lernen sie russisch. Bald soll Klaus vorbeikommen und ihnen eine seiner verbotenen Rolling-Stones-Platten verkaufen. Nichts ist anregender für die beiden als der Genuss dieser verbotenen Musik zu einer Zeit der Entbehrung. Das ist es Ralf sogar wert, seine geliebte “Knipse” herzugeben. Eine Aufarbeitung der Zustände in Ostdeutschland und den Kult der Schallplatte und frühe Medien an sich – gedreht auf 16 mm Rollen.
Ein fernes Land. Ein Bus. Eine Frau. Ihre Religion. Ein Konflikt. Fanatismus oder Menschlichkeit? – Vorhang
Der Film „Watu Wote: All of us“ von Katja Benrath beruht auf einem Angriff von islamistischen Terroristen auf einen Bus, in dem Muslime als auch Christen reisten, in Kenia im Jahr 2015. Die Angreifer wollten die christlichen Menschen ermorden, doch die Muslime nahmen ihre Mitreisenden in Schutz. Sehr verstörender Film, da ich das Gefühl hatte mitten drin zu sein. Sehr berührender Film – aus dem gleichen Grund.
Islamisten schießen auf Muslime? Nur um eine Christin aufzuspüren? Eine packende Installation, die sowohl von der christlichen Kirche als auch dem Zentralrat der Muslime unterstützt wurde, die die Menschlichkeit über den Fanatismus stellt und dem ein oder anderen Zuschauer und auch meiner Mitautorin vor Schrecken, Trauer oder Rührung die Hände vor die Augen trieb.
Blau. Grau in Grau. Farbwechsel. Grün. Eine Brücke. Gelb. Verlassen, Allein. Eine Ewigkeit des Konsums. Orange. Rückkehr zur Geborgenheit. Rot. – Vorhang
Auch nach dem Gespräch mit dem Regisseur bin ich nicht schlauer, was Nicolaas Schmidt mit seinem Film „FINAL STAGE“ ausdrücken wollte. Er zeigt die gesamte Leinwand ausfüllende Farbflächen und ungewöhnlich lange Szenen ohne Handlung. Wir sehen den Protagonisten des Films quälende zwölf Minuten lang durch ein Einkaufszentrum gehen. Das Publikum wird während der 27-minütigen Filmvorstellung hörbar unruhig. Ob er solche Publikumsreaktionen gedanklich miteinbeziehe, wenn er einen Film mache, fragt die Moderatorin ihn im Anschluss. „Nein“, erwidert er freundlich lächelnd. Er mache Filme nur für sich. Die Moderatorin erwähnt, dass er sie gebeten habe, wegen der grellen Farbwechsel vorab eine Epileptikerwarnung auszusprechen, was sie jedoch vergessen habe. Ich frage mich: wenn man eine Epileptikerwarnung haben möchte, wieso setzt man dann keine Epileptikerwarnung voran? Das lässt sich für mich auf den ganzen Film übertragen: sag doch, was du sagen möchtest. Ich möchte verstehen. Wirklich. So unangenehm ich mich während der Filmvorstellung auch gefühlt habe – dieser Film hat mich im Nachhinein bei Weitem am meisten beschäftigt. Schmidt hat bei der diesjährigen Berlinale einen spontanen Sonderpreis für seinen „formalen Mut“ verliehen bekommen, das kann ich gut verstehen. Dennoch habe ich mir den Namen des Regisseurs gemerkt – um erstmal nicht ausversehen noch mal in einem Film von ihm zu sitzen.
Wurde hier das Publikum gequält, indem es 27 Minuten lang einem weinenden Teenager dabei zusah, wie er ein Einkaufzentrum durchquerte? Auf jeden Fall. Ohne Grund? Eher nicht. So zeigt der Unterschied der farblosen Welt, die sich grau in grau vor dem verlassenen Jungen erstreckt zu der abstrus farbigen und trotzdem immer gleichen “corporate Identity” Welt innerhalb des Einkaufszentrums, wie leblos Farbe wirken kann, wenn sie überdimensional auf den Menschen einwirkt. Quittiert wird das Ganze mit zurückhaltendem Applaus. Vielleicht nichts für jeden. Vielleicht eine Überinterpretation eines von Farbfeldern durchzogenen “Kurzfilms”. Vielleicht doch nicht so schlecht, dass der Regisseur seine “Drohung” nicht bewahrheiten lässt und den Film mit einem Rückweg durch das Zentrum nicht auf Spielfilmlänge erhoben hat. Zweieinhalb Stunden Kurzfilme sind dann doch genug.
FINAL STAGE [TRLR] from Nicolaas Schmidt on Vimeo.
Eine Ehe. Ein Frühstück. Stimmungsschwankungen. Ein Konflikt. Eine Verbannung. Eine Realisation. – Vorhang
„Tisch und Bett“ von Jonathan Schulz ist das Ergebnis einer studentischen Gruppenarbeit. Mir hat die Mitteilung hinter der Handlung sehr gut gefallen, die Umsetzung etwas weniger.
Diese Aufarbeitung von Trauer, Wut, Realisation und Verzweiflung wirkt anfangs wie ein Ehestreit an einem idyllischen Frühstückstisch. Doch irgendetwas fehlt.
Ein Wissenschaftler. Die Unsterblichkeit. Der Mikrokosmos. Der Makrokosmos. Eine Möglichkeit. Eine Tragödie. Ein Neuanfang! – Vorhang
Der Film „Das Bärtierchen“ von Kerstin Welther ist ein von ihr selbst gezeichneter animierter Dokumentarfilm über die weniger als einen Millimeter großen gleichnamigen Tierchen. Sie lässt einen Wissenschaftler verschiedene Experimente mit ihnen anstellen, in denen sich zwei Dinge herausstellen: Bärtierchen überleben im Prinzip alles und Bärtierchensex bringt den gesamten Saal zum Lachen.
Voller Liebe zum Detail und mit Humor und Anspielungen auf die Welt der Science Fiction nimmt der kleine Überlebenskünstler den Zuschauer für sich ein.
Mehr dazu: Kerstin Welther: Tardigrade
Ein Fest. Eine fremde Umgebung. Ein Radio. Kein Entkommen. – Vorhang
In „Merry X-Mas“ fängt Jessica Dahlke eine völlig überladene Weihnachtsfeier in Thailand ein. Dazu spricht Angela Merkel. Während des Anschauens fehlte mir die Geschichte, die die Regisseurin im Anschluss mündlich nachlieferte: sie war Weihnachten entflohen und in einem Hotel voller Weihnachtsmänner mit Jingle-Bells-Dauerschleife gelandet.
Trotz des Versuchs, dem heimatlichen Weihnachtstrubels in ein buddhistisches Land zu entfliehen findet sich die Regisseurin – in diesem Fall auch Kamerafrau – inmitten von weihnachtsbegeisterten Menschen wieder. Ein Grund mehr, die Kamera auszupacken.
Weitere Informationen
Die Kurzfilme wurden während der Nordischen Filmtage nur ein einziges Mal gezeigt. Einige davon werden auf weiteren Festivals gespielt und nicht alle haben Spuren in Form von Trailern oder Ähnlichem im Internet hinterlassen. Das Schicksal von studentischen Kurzfilmen.
David H: Ich hab Final Stage in einem anderen Kontext gesehen und bin hier eindeutig anderer Meinung. Wenn Filmemacher immer in Worte fassen könnten, was sie uns zeigen wollen, dann würden sie keine Filme machen, sondern schreiben oder Hörbücher machen.
Das Gesamterlebnis eines Films also auf "Was wollte der Künstler mir sagen" oder auf "Was ist die Moral von der Geschichte" zu reduzieren ist ungefähr so aussagekräftig, als würde man einen Van Gogh kritisieren, weil man nicht versteht warum da Vögel über dem Kornfeld sind. Das ist meiner Meinung nach ein (sehr bürgerliches) Kunstverständnis das mindestens aus dem letzten Jahrhundert kommt.
Für mich dreht sich das allenfalls um. Final Stage fand ich gerade so erfrischend, weil der Autor dabei NICHT glaubt sich etwas besonders geistreiches aus dem Hirn pressen zu müssen.
Der Zwang besonders relevant und intelligent eine eigene Botschaft zu vermitteln (die 90% der Filmemacher sowieso nur für den Film ausformulieren), ist ein Schrecklich. Und gepaart mit den Tipps die junge Filmemacher täglich online über die omnipresente Dreiaktstruktur zugespielt bekommen ist die durchschaubare Langeweile perfekt.
Es geht – wie so oft – um die Frage, was Film leisten soll. Für viele ist klar: unterhalten. Und wenn er gleichzeitig noch im (abermals bürgerlichen) Sinne bildet, um so besser. Doch das halte ich für eine sehr einseitige Auslegung. Unterhaltung ist gut. Aber NUR Unterhaltung ist schlecht. Ich finde, dass eine Film-Landschaft (ähnlich wie eine Musik-Landschaft) gut daran tut, dass sie maximal divers ist.
In der Musik gibt es Leute die wollen liebliche Frühstücksradio-Musik. Und es gibt andere, die könnten Sie damit foltern. Es gibt welche die sagen, dass Musik die Laune verbessern soll und andere, die ihre Ohren und ihr Hirn gefordert haben wollen. Dass das auch in der Musik ein Problem ist, erkennt man z.B. daran, dass der NDR die Musik von der Echo-Preisträgerin nicht im Radio spielen wollte. Argument: "Die Leute wollen das nicht hören"
Der Gedanke des unmündigen Zuschauers ist im Film- und Fernsehbereich noch viel weiter verbreitet, als im Radio. Journalisten und Experten glauben, entscheiden zu können was Leute sehen wollen. Und währenddessen schauen sich Millionen junge Leute auf Youtube stundenlange Let's Plays an, gegen die Final Stage ein Spannungsfeuerwerk ist.
14. November 2017 um 15:33 Uhr |