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Joachim JungiusJosefine

Joachim Jungius

Die Biografie von Joachim Jungius beginnt mit einem Mord. Es war spät abends irgendwann im Herbst 1590. Tatort: Lübeck, Ecke Glockengießerstraße und Königstraße. Es hatte gerade von den Kirchen der Stadt Mitternacht geschlagen, als drei Gestalten mit Lampen in ihren Händen an der Ecke stehen blieben. Sie waren Freunde und gehörten dem Lehrerkollegium am Katharineum an.

Was folgte beschreibt Robert Ch. B. Avé-Lallemant in seiner 1882 erschienenen Jungius-Biografie „Yn Gudes Namen“ lesenswert, lebhaft und mit großer Liebe für die Mundart, daher sei die Szene hier in Gänze zitiert:

„‚Ei, ei, meine Herren Kollegen, was würde der Nachtwächter sagen, wenn er uns praeceptores juventutis (Anm. junge Lehrer) so laut in nächtlicher Stunde hier anträfe und erkännte! Denn es muss schon recht spät sein.‘ Und wirklich kam ein dunkler Umriss, ebenfalls mit einer grossen Laterne durch die Königstrasse daher, stiess mit einer Hellebarde auf den Boden, – ein regelrechtes Strassenpflaster hat es zu Lübeck erst in neueren Zeiten gegeben -, schwang eine mächtige Knarre einmal um ihre Achse und rief dabei aus: ‚De Klock hätt twölf sslahn, twölf iss de Klock’, – grüsste die drei Gesellen, und verzog sich. Die drei gingen nun auch eiliger ihres Weges. –

Keiner von ihnen aber hatte in der Blendung der eigenen Laterne eine Gestalt bemerkt, die aus der Pfaffenstrasse heraus schleichend längs der Häuser sich hinbewegte. Kaum waren die praeceptores und cantores auseinander gegangen und der Nachtwächter verschwunden, als einer der Schulmänner in dem Augenblick, in welchem er sich anschickte, in den Umgang des Katharineums hineinzugehen zu seiner dortigen Wohnung, von jener Gestalt überfallen und mittelst eines Stossdegens, wie ein solcher damals ausserordentlich viel getragen wurde, niedergestochen ward.

Ein einziger herzzerreissender Schrei des Getroffenen verkündete es, dass ein Meuchelmörder […] den Unglücklichen niedergemacht hatte. Dieser aber flüsterte entsetzt dem Sterbenden zu: ‚Oh mein Gott, Herr Präceptor, es galt ja gar nicht Euch!‘ und sprang davon.”

Das Mordopfer war Nicolaus Jungius, Vater von Joachim. Ob die Details so wirklich stattgefunden haben, wie von Avé-Lallemant geschildert, mag angezweifelt werden, sicher scheint: Der Mörder von Nicolaus Jungius hatte beabsichtigt, jemand anderen zu töten und in der Dunkelheit der Nacht den Lehrer für sein geplantes Opfer gehalten.

Jungius’ Mutter, die Pfarrerstochter Brigitte Jungius, war wahrscheinlich schnell vor Ort, da der Mord nahe der Wohnung geschah, aber ihrem Ehemann konnte nicht geholfen werden. Die Beerdigung fand am nächsten Tag statt. Wahrscheinlich begleiteten, so war es üblich bei bedeutenden Personen der Stadt, die ehemaligen Schüler, unter Leitung des Rektors, als Chor die Leichenprozession. Der dreijährige Joachim Jungius dürfte sich an nichts davon erinnert haben.

Die frei gewordene Lehrerstelle wurde schnell besetzt: Martinus Nordmann übernahm nicht nur das Lehramt an der Schule, er heiratete auch, der Moral der Zeit entsprechend, die Witwe Jungius, die dadurch nicht gezwungen war, die von der Schule gestellte Wohnung am Katharineum zu verlassen und mit ihren Kindern ohne eigenes Einkommen zu leben.

Ein Junge seiner Zeit

Das zu Ende gehende 16. Jahrhundert, in welchem Joachim Jungius geboren wurde, war eine Zeit des Wandels. Die Entdeckung der neuen Welt, die Ausbreitung des Buchdrucks, die Spaltung des Christentums, Pestausbrüche und die Hexenverfolgung waren alle Teil von Jungius’ Lebensrealität.

1458 eröffnete die erste Druckerei in Straßburg, 1500 gab es im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in dem zu diesem Zeitpunkt über zwölf Millionen Menschen lebten, 62 Druckereien. Die Generation von Lehrern, zu der Joachims Vater gehörte, war wahrscheinlich die erste, welche als “Print Natives” aufgewachsen waren.

1522 erschien die Übersetzung der Bibel von Martin Luther, sie war der erste Bestseller des jungen Mediums und führte mit zur Abspaltung der protestantischen Kirche um 1530.

Die Zeit des Jungius war auch die Zeit der Hexenverfolgung. Von Vielen mit dem Mittelalter und der katholischen Inquisition verbunden, kam es in der frühen Neuzeit zu einer stark durch die neue lutherische Kirche getriebenen, neuen Welle von Hexenprozessen und Verbrennungen. Insbesondere zwischen 1550 und 1650 starben dabei ungefähr 60.000 Menschen. Die Anzahl der Inhaftierten und Gefolterten war natürlich viel höher. Bis zu 80 Prozent der Opfer waren Frauen.

Joachim Jungius wurde am 22. Oktober 1587 als Joachim Junge in Lübeck geboren. Der Familienname Jungius stellte eine zu jener Zeit übliche Latinisierung dar. Die Hansestadt Lübeck im Jahre 1587 war unerhört reich und Joachim wurde in eine Familie des gehobenen Mittelstands geboren. Sein Vater war als Lehrer am noch heute existierenden Katharineum zu Lübeck, damals wie heute im Gebäude des alten Franziskanerklosters, gut bezahlt.

Mit der infolge der Lutherveröffentlichung aufgetretenen Religionsspaltung ist auch zu verstehen, warum das ehemalige Franziskanerkloster in Lübeck nun eine protestantisch geführte Schule wurde: Der katholische Franziskanerorden war in Lübeck, welches sich am lutherischen Bild orientierte, nicht mehr willkommen gewesen. Der Schulreformator Johannes Bugenhagen war 1530 nach Lübeck geladen worden, um das Schulwesen im Sinne der neuen, lutherischen Kirche zu reformieren, und hatte das Katharineum in diesem Zusammenhang gründen lassen.

Am Katharineum zeigte Jungius sich bereits früh als außergewöhnlicher Schüler. Es sagt vielleicht mehr über das Schulsystem der Zeit als über Jungius, dass als Anekdote erhalten blieb, dass er einmal nicht nur wagte im Logik-Unterricht dem Lehrer zu widersprechen, sondern der Lehrer ihm am nächsten Tag vor der Klasse auch noch Recht geben musste. Das Schulsystem war üblicherweise keines, welches den freien Austausch von Meinungen beförderte.

Streng kontrolliert durch die Kirche wurde Jungius in Sprachen (Griechisch, Latein, Hebräisch), Religion, den Künsten (zwei Theaterstücke, die er in seiner Schulzeit schrieb, sind erhalten geblieben, aber das Katharineum war auch für den Gesangsunterricht bekannt) sowie der Philosophie, welche im Verständnis der Zeit alles, was heute als Naturwissenschaft oder Mathematik verstanden werden würde beinhaltete, unterrichtet. Gerade die philosophischen Inhalte waren dem Schüler Jungius nicht genug und es ist überliefert, dass er sich nicht nur selbst weiterbildete, sondern auch seinen Mitschülern zusätzlichen Unterricht gab.

Insbesondere interessierte sich Joachim Jungius für erkenntnistheoretische Ansätze, welche über die in der kirchlichen Lehre akzeptierten Konzepte von Aristoteles hinausgingen. Konflikte mit den Autoritäten waren garantiert und Jungius hatte wohl großes Glück, auf einige eher liberale Lehrer zu stoßen, welche seine Neugierde zu schätzen und zu befördern wussten.

Joachim Jungius schloss das Gymnasium mit 18 Jahren als Bester seines Jahrgangs ab und hielt zum Abgang seines Jahrgangs eine bis heute erhaltene Abschlussrede, in welcher er argumentierte, dass es besser sei, in einfachen Worten die Wahrheit zu sagen als in guten Worten, mit Hilfe der Beredsamkeit, Andere vom Gesagten, unabhängig vom Wahrheitsgehalt, zu überzeugen. Die Frage nach der Wahrheit und der Erkenntnis, wie diese zu definieren und wie sie zu kommunizieren seien, würde für den Rest seines Lebens ein Kern seines Schaffens sein.

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Die Universität der Hanse

Jungius entschied sich für ein Studium in Rostock. Dies war für einen Schüler aus Lübeck eine sehr gewöhnliche Wahl. Die dortige Universität war das akademische Zentrum der Hanse, so wie Lübeck deren Handelszentrum war. Tatsächlich hatte die Universität Rostock gut 100 Jahre zuvor, als es 1487 zu Streitigkeiten zwischen Universitätsleitung und Landesherren von Mecklenburg kam, für einige Jahre ihren Lehrbetrieb nach Lübeck verlegt. Jungius dürfte dort mit vielen seiner Klassenkameraden studiert haben, darunter vielleicht auch sein Schulfreund Johann Adolph Tassius, der in einem späteren Lebensabschnitt eine große Rolle spielen wird.

1606: Joachim Jungius verlässt Lübeck um sein Studium zu beginnen.Josefine

1606: Joachim Jungius verlässt Lübeck um sein Studium zu beginnen.

Die Anzahl der Studienfächer zu jener Zeit war begrenzt. Jungius entschied sich erstmal für die „Metaphysik“. Das Studienfach Metaphysik befasste sich grundsätzlich damit, die Realität, das „Sein“ zu ergründen und umfasste Aspekte, welche aus heutiger Sicht verschiedensten Disziplinen wie Philosophie, Theologie, Naturwissenschaft, Logik und Mathematik zugerechnet würden. Eine solche Bündelung von aus moderner Sicht gänzlich unterschiedlichen Fachbereichen bestand aus mehreren Gründen.

Eine Unterteilung der verschiedenen Naturwissenschaften, wie wir sie heute üblicherweise vornehmen, erfordert ein Verständnis dafür, was sie trennt. 1606 war das gesammelte Wissen in vielen Bereichen nicht so umfassend, dass es als eigener Themenbereich überhaupt abgrenzbar gewesen wäre. Der Unterschied zwischen Philosophie und Mathematik war von vielen so schlecht verstanden, dass die meisten Universitäten keinen Lehrstuhl für Mathematik hatten. An anderen Universitäten wurde der Lehrstuhl mit einem anderen zusammengelegt, oft mit der Theologie. Die Chemie existierte faktisch nicht, die Lehre der vier Elemente und alchemistische Bemühungen dominierten das Themenfeld, auch Biologie und Physik steckten in den Kinderschuhen.

Der komplexere Grund dafür, dass sich Universitäten entschieden, die Suche nach Erkenntnis hauptsächlich theologisch und philosophisch zu betreiben, hat damit zu tun, was man über Wahrheit dachte.

Für die meisten Gelehrten der Zeit war nicht fraglich, was, zumindest grundlegend, wahr sein muss. Wahrheit sei ein religiöses und philosophisches Konzept und könne daher lediglich aus dem Wort, dem Argument, entstehen. Quelle für die Argumentation sei immer ein Gedanke, meist aus der Bibel, aber auch Aristoteles’ Werk galt als derart wahrhaftig, dass es den christlichen Lehren gleichwertig schien. Diese Denkweise wurde unter dem Begriff der Scholastik zusammengefasst. Jungius kritisierte später: “Das unglückliche Vertrauen in die dialektische Physik des Aristoteles hat die Vernachlässigung der Beobachtung zu Wege gebracht.“ Bekanntestes Opfer dieser Denkweise war Jungius’ Zeitgenosse Galileo Galilei. Mit Hilfe neuer wissenschaftlicher Instrumente (der optischen Linse und dem daraus konstruierten Fernrohr) konnte Galilei Beobachtungen anstellen, welche das vorherrschende Weltbild widerlegten. Dies jedoch führte keinesfalls dazu, dass die Kirche sich gezwungen sah, ihr Weltbild zu revidieren oder anzupassen, vielmehr musste Galilei revidieren, erklären, dass seine Beobachtungen falsch sein müssten, da sie der Wahrheit widersprächen.

Für den präzise denkenden Jungius war eine solche Position kaum haltbar und er stellte, wie es ein Biograf formuliert, frustriert fest, „wie wenig wahre Wissenschaft die Metaphysik ihren Verehren verheiße.“ Er konzentrierte sich auf die Mathematik, welche er als reine und wahre Wissenschaft verstand. Einige Jahre später, 1629, schrieb er über den Zustand der Wissenschaft jener Zeit „So erhoben sich bis zum Überdruß zahlreiche Meinungen, erdichtete Distinktionen, Labyrinthe von Kontroversen. Dabei entstand eine Frage aus der anderen, entsproß eine Kontroverse aus der anderen, ganz wie aus einem abgeschlagenen Haupte der Lernäischen Hydra gleich mehrere andere nachwuchsen. […] So stieß der Hörer da, wo er einen Beweis erwartete, auf irgendeine wahrscheinliche Pseudobegründung, auf einen Kompromiß zwischen doppeldeutigen Texten oder auf ähnliche Trauergesänge.“ Erstmalig stieß Jungius in Rostock auf den Konflikt, der ihn lebenslang begleiten würde: Den Konflikt zwischen der scholastischen Philosophie seiner Zeit, welche auch von der mächtigen Kirche vertreten wurde, und dem aufkommenden Ideal empirischer Forschung, dem er sich verschrieb.

Mathematik als Wissenschaft begreifen

Jungius studierte zwei Jahre in Rostock, um dann für sein letztes Studienjahr an die neu gegründete Universität nach Gießen zu wechseln, wo Mathematik auch besser gefördert wurde.

Die neue Universität war für viele der Erneuerung der Wissenschaften zugeneigten Studenten ein Anzugspunkt, womit sie sich nicht nur Freunde machte. Auch das von der Universität vertretene klar lutherische Weltbild half in einem von Religion geteilten Deutschen Reich nicht. Manche Fürsten, gerade im naheliegenden Marburg, welches damit auch seine eigene Uni schützen wollte, verboten ihren Untertanen, in Gießen zu studieren oder zu lehren. Jungius allerdings schloss dort sein Studium sehr erfolgreich ab und promovierte wieder als Jahrgangsbester. Zwar hatte Jungius nun promoviert, dies machte ihn aber im Bildungswesen der Zeit nicht zum Doktor, sondern zum Magister. Es war ein gänzlich anderer Prozess als heute, die Promotion erfolgte in einer mündlichen Prüfung, gemeinsam mit anderen Studenten, sowie einer schriftlich verfassten Verteidigung (Disputation) von einigen Seiten.

1608: „Bei Promotionen sogar tranken Examinatoren und Doctoranden promiscue in ungeheuren Massen Bier.“ - Robert Ch. B. Avé-Lallemant (Yn Gudes Namen, p. 22) - Kurz nach seiner Promotion wird Jungius zum Professor ernannt.Josefine

1608: „Bei Promotionen sogar tranken Examinatoren und Doctoranden promiscue in ungeheuren Massen Bier.“ – Robert Ch. B. Avé-Lallemant (Yn Gudes Namen, p. 22) – Kurz nach seiner Promotion wird Jungius zum Professor ernannt.

Jungius hatte wohl geplant, nach Rostock zurückzukehren. Stattdessen machte ihm die Universität Gießen ein ungewöhnliches Angebot: Mit nur 22 Jahren sollte er den freigewordenen Platz eines Professors für Mathematik übernehmen. Dies war für den jungen Gelehrten sicherlich eine große Ehre, da er der Mathematik allerhöchste Bedeutung unter den Wissenschaften zugestand, es war jedoch aus Sicht der Universität eher eine unbedeutende Professur. Jungius nahm das Angebot an.

In seiner Antrittsrede verfeinerte Jungius die Argumente jener Rede, die er nur wenige Jahre vorher in Lübeck zum Schulabschluss gehalten hatte. Doch ging es nun um mehr als darum, die Wahrheit, wie man sie versteht, zu sagen anstelle andere mit schönen Worten zu überzeugen. Es ging nun um die Art und Weise wie diese Wahrheit überhaupt festzustellen sei. Jungius pries die Vorzüge einer wissenschaftlichen Denkweise und stützte sich, anders als so viele Wissenschaftler seiner Zeit, eher auf Platon als auf Aristoteles als Ideengeber. Sein Weg, der ihn „nach und nach aus den Reichen der Metaphysik herabsteigend, der Erfahrungsphysik nähert“ wie Goethe es später schrieb, begann hier in Gießen.

Zwar würde Jungius nur wenige Jahre in Gießen lehren, bis er, nicht zum letzten Mal, seinen wissenschaftlichen Fokus wechselte, aber es lohnt sich dennoch, kurz bei der Mathematik zu verweilen. Es war wohl 1613, Jungius war seit vier Jahren Professor, als er von einem Buch hörte, welches bereits vor seiner Geburt geschrieben wurde, aber lediglich in einer Kleinstauflage erschienen war: Die Zetetica (1593) des Franzosen Franciscus Vieta. Vieta war eigentlich Anwalt und hatte die Mathematik nur als Hobby betrieben. Offensichtlich auch begeistert von der neuen Technologie des Drucks ließ er seine Ideen in kleinster Auflage drucken und verteilte sie unter Freunden. Tatsächlich waren die darin enthaltenen Erkenntnisse revolutionär, insbesondere die Zetetica und Logistica speciosa hatten es in sich. Erstmalig wurden, in systematischer und formalisierter Form, Buchstaben in einer Formel für beliebige Zahlen eingesetzt um Allgemeingültiges darzustellen. Er und andere Mathematiker, die ähnliche Ideen präsentierten oder darauf aufbauten, versetzten die Mathematik in die Lage, Formeln zu schreiben, um Aufgaben zu stellen und Beweise zu führen, die vorher nur geometrisch, mit Hilfe spezieller Zahlenbeispiele oder in umständlicher Sprache gezeigt werden konnten. Vieta, heute der Vater der Algebra genannt, hatte an vielen Stellen die Mathematik vorangebracht, doch sein wichtigster Beitrag bleibt: Er hat die Variable in die moderne Mathematik eingeführt.

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Ohne Zahlen zählen

Bei Tartaglia (1535) hieß es noch: „Finde mir eine Zahl derart, dass, wenn ihr Kubus addiert wird, das Resultat sechs ist.“ So konnte man bald etwas schreiben, was der modernen Darstellung x^3 + x = 6 zumindest nahe kam. Und wenn die Aufgabe noch verständlich scheint, so gilt dies für den Lösungsweg für Gleichungen vom Typ ax^3+ax = b kaum mehr, der hier nach „6000 Jahre Algebra: Geschichte – Kulturen – Menschen“ von Hans Wußing zitiert ist: „Bilde die dritte Potenz von einem Drittel des Koeffizienten der Unbekannten; addiere dazu das Quadrat der Hälfte des konstanten Gliedes der Gleichung; und nimm die Wurzel aus dem Ganzen, d.h. die Quadratwurzel. Bilde sie zweimal. Zur einen addiere die Hälfte der Zahl, die du schon mit sich multipliziert hast; von der anderen subtrahiere dieselbe Hälfte. Du hast dann ein Binom und seine Apotome. Dann subtrahiere die Kubikwurzel aus der Apotome von der Kubikwurzel aus dem Binom. Der dabei übrig bleibende Rest ist der Wert der Sache.“ (im Original als Gedicht verfasst).

1613: An sine numeris numerare sciret?Josefine

1613: An sine numeris numerare sciret?

Wenn man eine Weile darüber nachdenkt, versteht man, was für eine grundlegende Veränderung für die Denkweise eines Mathematikers es sein muss, erstmalig von Variablen zu lesen. Verwunderung liest man bei Jungius, der wohl schrieb „an sine numeris numerare sciret?” (Ob er ohne Zahlen zählen könnte?). Eine viel größere Revolution hatte übrigens erst einige Jahrzehnte vorher stattgefunden. 1522 veröffentlichte Adam Ries das Buch „Rechenung auff der linihen und federn“, in welchem er den Wechsel von lateinischen zu arabischen Zahlen beim Rechnen vorschlug, (und wer nicht glaubt, dass dies eine Revolution ist, möge einfach mal ein paar Wochen versuchen, in lateinischen Zahlen zu rechnen).

Die Legende um Jungius und die Zetetica besagt, dass Jungius sich das Buch von einem durchreisenden Gelehrten lieh. Er konnte es jedoch nur für eine Nacht haben und so schrieb er die ganze Nacht hindurch bei Kerzenlicht so viel von dem Buch ab, wie er konnte, und gab es dann zurück. In der Folgezeit musste er sich dann die Herleitungen zwischen den abgeschriebenen Teilen erarbeiten. Als er später selbst eine Ausgabe kaufen konnte, hatte er sich alles fehlende und vieles mehr bereits erarbeitet. In welchen Punkten er über Vieta hinausgekommen war, ist leider nicht erhalten. Nimmt man an, dass er die Notation so weiterentwickelte, wie es später einer seiner Schüler in einem Buch nutzte, so gelangen ihm mehrere Schritte, die heute Descartes zugeschrieben werden, vor jenem, darunter die Nutzung kleiner statt großer Buchstaben und das Hochstellen von Zahlen, um Potenzen anzuzeigen.

Es ist ein Muster, das sich durch Jungius’ Karriere ziehen wird. Er mag sich mit der Hyperbelquadratur befasst haben und, so weiß man aus einem Brief eines Schülers, soll dort auch Erfolge erlangt haben, vielleicht noch bevor Fermat und Roberval dies taten. Veröffentlicht hat Jungius diese nie. Jungius veröffentlichte ohnehin selten, stattdessen schrieb er tausende ungeordnete Notizen, die er später zusammenführen wollte, was er aber selten tat.

In seiner Zeit in Gießen wurde Jungius zunehmend unzufrieden mit dem Bildungssystem. Dies betraf nicht nur das strenge, scholastische Universitätssystem, an welchem er immer wieder scharfe Kritik übte, sondern auch das Schulsystem. „Es geht mir gar nicht um diesen oder jenen Irrtum,“ schrieb er, „sondern die ganze Art und Weise des Denkens ist sophistisch, und aus ihr erwachsen all die Monstrositäten von Lehrmeinungen.“ Als er 1613 einen Ruf aus Rostock erhielt, um dort ein Gymnasium zu leiten, lehnte er ab. Das mag auch daran gelegen haben, dass Mathematik an den Schulen wenig galt. Erst in den letzten 100 Jahren war es überhaupt auf den Stundenplänen der Gymnasien erschienen. Die Schüler von Jungius waren später hoch geschätzt für ihre Kenntnisse in einer Zeit, in der Leibniz in der Schule ohne Matheunterricht auskommen musste.

Wolfgang Ratichius und das Bildungssystem

Anstatt also Rektor eines Gymnasiums zu werden, erhielt Jungius als Universalgelehrter von gutem Ruf vom Landgraf von Hessen-Darmstadt den Auftrag, zusammen mit seinem Kollegen Prof. Helevicum ein Gutachten über eine neue didaktische Methode anzufertigen. Entwickler der neuen Methode war Wolfgang Ratichius. Jungius war von dessen Ideen durchaus angetan. Nicht nur, dass Ratichius versprach, dass Schüler mit seiner Methode jede Sprache in nur einem Jahr lernen könnten, er stellte auch die Grundprinzipien des Schulsystems in Frage. Erstmalig glaubte Jungius Verbündete im Kampf gegen das geltende Bildungssystem zu finden: „Wie kannst du es wagen wollen, allein gegen solche Lehrmeinungen zu kämpfen? Wenn ich hätte allein sein sollen, so hätte ich keine Feder gegen die Schulmeinung gerührt.“ Er zog mit Ratichius nach Augsburg und ließ sich in den neuen Methoden unterweisen.

Das Unternehmen einer Bildungsreform war zum Scheitern verurteilt, schon allein weil Ratichius und Jungius zu unterschiedliche Persönlichkeiten aufwiesen. Zudem waren die Versprechen, die Ratichius seine Methode betreffend gemacht hatte, gänzlich überzogen. Jungius war auf das hereingefallen, wovor er schon in seiner Rede zum Schulabschluss gewarnt hatte: Eine schön verpackte Theorie ohne den nötigen wissenschaftlichen Hintergrund. Auch Jungius erkannte dies nach einem Jahr und gab das Unterfangen auf. Er kehrte kurzzeitig zurück nach Lübeck, wo er sich angeblich daran versuchte, ein allgemeines deutsches Wörterbuch zu erstellen, 266 Jahre bevor Konrad Duden sein „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ herausgeben würde und 171 Jahre bevor Jacob Grimm überhaupt geboren wurde. Ob Jungius tatsächlich an einem Wörterbuch arbeitete, ist unklar, erschienen ist es nie. Es mag auch sein, dass er nach Lübeck ging, um seine Halbschwestern besser kennenzulernen, die aus der Ehe seiner Mutter mit dem Lehrer Nordmann stammten.

1614: Zurück in Lübeck überdenkt Jungius seinen bisherigen Werdegang und beschließt ein zweites Mal zu studieren.Josefine

1614: Zurück in Lübeck überdenkt Jungius seinen bisherigen Werdegang und beschließt ein zweites Mal zu studieren.

Es war vielleicht auch eine Zeit der Introspektion für Jungius. Er hatte in der Mathematik etwas gefunden, was er für die Grundlage aller Wahrheit hielt, doch die Universitäten erlaubten ihm kaum, es so wie er wollte weiterzugeben, zudem war das Arsenal an Techniken begrenzt. Jungius mag erkannt haben, dass die rein theoretische Betrachtung der Wahrheit aus der Mathematik heraus nicht ausreichte, dass eine naturwissenschaftliche Bildung, eine empirische Herangehensweise notwendig war, für die er nicht ausgebildet war.

Trotz seiner Abneigung gegen die rigide Struktur des Unterrichts ging der inzwischen 29 Jahre alte Jungius als Student wieder an die Uni nach Rostock. Diesmal studierte er Medizin. Die Medizin war, anders als die Mathematik oder die Naturwissenschaften, wenn auch grundlegend primitiver als heute, als Wissensbereich immerhin schon ungefähr so abgegrenzt, wie wir sie kennen: Gelehrt wurden die Funktionsweise des menschlichen Körpers, die Arten, auf die selbiger erkranken konnte, wie diese Krankheiten oder Verletzungen diagnostiziert werden konnten und welche Methoden zur Heilung es gab.

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Dr. med. Joachim Jungius

Doch was weiß die Welt zu diesem Zeitpunkt darüber, wie der menschliche Körper funktioniert? Eine der neueren Erkenntnisse, die Jungius in seinem Studium gelernt haben wird, ist, dass Wunden, zum Beispiel Schusswunden, nicht am besten damit zu heilen sind, dass man heißes Öl über sie kippt.

1537 hatte Ambroise Paré in Turin in unbeabsichtigten Versuchen (das Öl war aus) festgestellt, dass die Behandlung von Wunden mit kochendem Öl außer großen Schmerzen nichts verursachte. Paré hatte es allerdings schwer, sich durchzusetzen, da er seine Erkenntnisse nicht auf Griechisch, sondern auf Französisch aufschrieb, der einzigen Sprache, die er wirklich beherrschte. Auf Kritik daran soll er mit dem Spruch, Hippokrates habe ja auch in seiner Muttersprache geschrieben, reagiert haben.

Gängige Lehrmeinung dürfte in Jungius’ Studium noch das Konzept der Körperflüssigkeiten von Galenos von Pergamon (Galen; 129 n. Chr. – 215 n. Chr.) gewesen sein. Es unterscheidet verschiedene Flüssigkeiten, darunter auch Blut das vom Herz angesaugt durch den Körper fließt und dort verbraucht würde. Ein Rückfluss findet in diesem Modell nicht statt.

Jungius beendete auch sein zweites Studium nicht in Rostock, sondern wechselte 1618 an die angesehene Universität in Padua, an welcher einige Jahre zuvor William Harvey studierte, der 1627 den Blutkreislauf postulieren würde. Die Universität Padua stand unter der Herrschaft des 40 Kilometer entfernten Venedigs, welches unangefochten als eines der Zentren der europäischen Wissenschaftsförderung galt. Nur neun Jahre vorher hatte Galileo Galilei hier sein Fernrohr präsentiert und war danach mit einer lebenslangen Professur in Padua geehrt worden, welche er aber nicht mehr ausübte, als Jungius nach Italien zog. Nach einem Jahr in Padua beendete Jungius sein Studium der Medizin mit seiner zweiten Promotion und bereiste danach noch eine Weile Italien.

In Italien erweiterte der frisch promovierte Arzt seine Kenntnis in einer weiteren Wissenschaft: Der Biologie. Er beschäftigte sich intensiv mit den verschiedenen Pflanzen, der Beobachtung von Raupen und der Bienenzucht. Diese Begeisterung würde ihn bis an sein Lebensende begleiten und er sammelte unzählige Notizen zu diesem Thema.

Goethe würde Jungius später hauptsächlich als Botaniker sehen. Über dessen Buch „Leben der Insekten“, welches Jungius 1691 unter dem Titel „Historiam Vermium“ herausbrachte, schrieb Goethe, man erkenne darin den Geist eines „ruhig beschauenden Naturfreundes, der in dem Gefühl, eine solche grenzenlose Masse sei nicht zu ordnen, sich Zeit seines ganzen Lebens ununterbrochen mit dem Gegenstande beschäftigt, den er nicht abzuschließen gedenkt“ und verweist auf den Botaniker Carl Ludwig Willdenow, der über Jungius’ Studien geschrieben haben soll: „Wenn man diesem Mann in der Art zu studieren gefolgt wäre, so hätte man hundert Jahre eher dahin gelangen können, wo man gegenwärtig ist.“

Während der 31 Jahre alte Jungius noch seinen Abschluss feierte, begannen in Prag Ereignisse, die sich zur größten Katastrophe des 17. Jahrhunderts entwickeln würden: Der Dreißigjährige Krieg brach aus.

Per inductionem et experimentum omnia

In diesem Text sei darauf verzichtet, die Geschichte des Krieges nachzuzeichnen, außer zu den Zeiten, in denen es Jungius direkt beeinflusst. Der Krieg wird in den nächsten Jahrzehnten immer wieder Einfluss auf sein Leben haben und ihm den Erfolg verwehren, den er mit seinen Abschlüssen hätte erwarten können.

Jungius kehrte 1619, wahrscheinlich mit Umweg über Lübeck, nach Rostock zurück, wo er als Arzt praktizierte. Dies ist vielleicht seine einzige Profession, in welcher sein Ruf zu Lebzeiten nicht immer ausgezeichnet war. Von einigen Seiten wurde ihm vorgeworfen, er handele zögernd und verschreibe selten Arznei. Dies mag zu jener Zeit als ein fragwürdiges Verhalten verstanden worden sein, nach allem, was wir heute über die Medizin jener Zeit wissen, hat Jungius womöglich mit seinem Zögern so oft geholfen, wie er geschadet hat.

Neben seiner Praxis übte sich Jungius nun auch in der praktischen Botanik. In einem Garten pflanzte er in Rostock unterschiedliche Gewächse an und schickte sich mit einem Freund in Lübeck Tipps und Pflanzensamen hin und her.

Obwohl Jungius anfangs keine Stellung in Rostock fand, in welcher er für das Forschen bezahlt wurde, wollte er Forschung in Norddeutschland vorantreiben. Sein Mittel zum Zweck war ein wissenschaftlicher Geheimbund. Als Vorbild dienten ihm zweifelsohne die Geheimbünde, die er während seines Aufenthaltes in Italien kennengelernt hatte. Der von Jungius mitbegründete Bund nannte sich „Societas ereunetica, zetetica, heuretica“ und war die erste naturwissenschaftliche Gesellschaft nördlich der Alpen. Jungius formulierte für sie das Ziel, „die Wissenschaft von Grund auf neu zu beginnen, keine Regel und keine Anweisung zuzulassen, die nicht von neuem gründlich erforscht und erprobt worden sei.“ Was als ein von dem rigiden System der Universitäten unabhängiges Forscherteam gedacht war, würde vorläufig in Deutschland nicht erfolgreich sein: Der Krieg zwang den frisch gegründeten Bund, sich wieder aufzulösen.

1622: Die Erneuerung der Wissenschaften im Universitätssystem erschien unmöglich, so gründete Joachim Jungius einen Forschungsbund.Josefine

1622: Die Erneuerung der Wissenschaften im Universitätssystem erschien unmöglich, so gründete Joachim Jungius einen Forschungsbund.

Jungius spielte in jener Zeit mit dem Gedanken, einen Wechsel nach Hamburg zu wagen, eine Stadt, in welcher der Krieg keine Gefahr sein würde. Viel zu respektiert waren ihre Befestigungen. Hamburg zu jener Zeit verfügte über zwölf promovierte Mediziner, welche für ausreichend erachtet wurden. Wer sich als Arzt dort niederlassen wollte, musste sich um eine Zulassung bewerben. 1623 hatte Jungius damit kein Glück.

Stattdessen bekam er 1624 nach einigen Jahren endlich die Anstellung an der Uni Rostock, die er wegen des festen Gehalts wohl von Anfang an angestrebt hatte. Fortan war er dort Professor für Mathematik. Zudem lernte er seine zukünftige Frau, die Rostocker Patrizierin Katharina Havermann kennen.

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[nextpage title=”Jahre der Unruhe” img=”262286″]

Jahre der Unruhe

In Rostock hätte Jungius berufliche und private Zufriedenheit und Stabilität finden können, aber stattdessen brach in Rostock die Pest aus. Die frisch Verheirateten mussten die Stadt schnellstmöglich verlassen. Jungius flüchtete mit seiner Frau zuerst in das Haus eines Freundes in Lübeck und gelangte dann, durch Vermittlung seines Schulfreundes Tassius, nach Helmstedt, wo er eine Professur erhielt.

Nicht nur war jede Reise ein Risiko, weil Räuber und Soldaten am Wegesrand lauern konnten, sie war auch ein enormes bürokratisches Unterfangen. Schutzzusicherungen der jeweiligen lokalen Fürsten waren idealerweise einzuholen, bevor man sich auf den Weg machte. Und Jungius verlegte jedes Mal seinen Hausrat, inklusive inzwischen reichhaltiger Bibliothek mit vielen hundert Büchern, an einen neuen Ort.

Er war kaum in Helmstedt angekommen und hatte mit seiner Arbeit begonnen, als auch hier sowohl die Pest als auch der nahende Krieg die Arbeit unmöglich machten. Bald schon gab es in Helmstedt praktisch keine Studenten mehr und so blieb auch dem kriegsmüden Jungius keine andere Wahl, als zu flüchten. Jungius überlegte, ins nahe Magdeburg zu fliehen, doch dort tobten die katholischen Truppen unter dem Feldherrn Tillich. Stattdessen ging es so hastig, dass Jungius seine Privatbibliothek zurück lassen musste, nach Braunschweig.

Wieder um seine staatliche Anstellung und das damit verbundene geregelte Gehalt gebracht, lebte Jungius dort in verhältnismäßiger Armut. Er versuchte wieder, eine Privatpraxis zu führen, doch er konnte sich kaum über Wasser halten. Wieder eingefädelt durch seinen Freund Tassius erklärte sich der Statthalter von Wolfenbüttel bereit, Jungius bei sich aufzunehmen, sodass er ein weiteres Mal seine Praxis verlegte.

Nun steckten Jungius und Tassius in Wolfenbüttel fest. Beide wären gerne zeitnah nach Rostock zurückgekehrt – allerdings möglichst zu guten finanziellen Konditionen. Die Verhandlungen mit der Uni gestalteten sich als lang, aber schlussendlich erfolgreich. Nach zwei Jahren der Abwesenheit und vier umständlichen Umzügen kehrte Jungius 1626 an die Universität Rostock zurück.

Doch mit seiner Rückkehr nach Rostock wurden die Zeiten nicht ruhiger. Als Jungius 1628 seinen Geburtstag in Lübeck feierte, erreichte ihn ein Brief aus Rostock: Die katholischen Truppen von Wallenstein und Tillich hatten Rostock eingenommen.

An dieser Stelle widersprechen sich die Biografen. Nach Robert Ch. B. Avé-Lallemant ist unklar, ob Jungius überhaupt nach Rostock zurückkehrte, wenn ja, dann nur für wenige Wochen, bevor es ihm gelang, eine Rektorenstelle in Hamburg zu erhalten und aus dem besetzten Rostock zu ziehen. G.E. Gurhauer hingegen berichtet von einer kurzen Phase, in der Feldherr Wallenstein Professor Jungius in Rostock halten konnte und versuchte, dort eine Uni von Weltruf zu errichten. Sogar ein Ruf an Johannes Kepler soll ergangen sein, aber das Gehaltspaket war wohl nicht ausreichend.

Sicherheit in Hamburg

Dass die Möglichkeiten, in Hamburg Anstellung zu finden, besser geworden waren, war unter anderem eine Folge des Krieges, welcher im sicheren und verhältnismäßig liberalen Hamburg zu Bevölkerungswachstum führte. Protestanten aus Frankreich, Juden aus Portugal, politisch Verfolgte aus England, Kriegsflüchtlinge und aus religiösen Gründen Verfolgte aus dem norddeutschen Umland – sie alle suchten Schutz in Hamburg. So auch Jungius, welcher im November 1628 die Leitung eines Gymnasiums und des Johanneums in Hamburg übernahm. Als eine seiner ersten Amtshandlungen bat er einige Tage später den Hamburger Senat, seinen Freund Tassius auch einzustellen zu lassen. Er hatte Erfolg.

Nun wieder mit einem regelmäßigen Gehalt versehen konnte sich Jungius unter anderem darum bemühen, seine in Helmstedt vor den Truppen versteckten Besitztümer, darunter die umfangreiche Bibliothek, wieder zurückzuholen.

Der Zustand des von ihm übernommenen Gymnasiums in Hamburg war desolat. Es gab kaum Lehrer, erst recht kaum gute Lehrer, was aber halb so schlimm war, denn es gab ebensowenig Schüler. Tatsächlich war in den Jahren zuvor überlegt worden, das Gymnasium zu schließen. Für Jungius hieß dies zwar, dass sein neuer Job mit Anstrengungen verbunden war, er erlaubte ihm aber auch, die Schule wieder aufzubauen und nach seinen Vorstellungen zu formen, sie sozusagen neu zu gründen und dabei seine Grundsätze einzubringen. Was diese Vorstellungen sein würden, legte er in seiner erhaltenen Antrittsrede in Hamburg dar – eine heute viel beachtete Rede, da sie, Jahre bevor es Descartes tun würde, Grundzüge der empirischen Theorie umriss. Eine Feststellung, die die Leistung Descartes’ nicht schmälert, denn es ist nicht davon auszugehen, dass er die Antrittsrede des Hamburger Rektors jemals sah. Aber man sieht daran, wie nah an der ganz großen Erkenntnis Jungius sich manches Mal befand.

Obwohl Jungius, nachdem er zwischen seinem 18. und 41. Lebensjahr 14-mal umgezogen war, in Hamburg scheinbar zur Ruhe kam, wurde sein Leben doch nicht ruhig. Grund dafür waren die Konflikte mit jenen, die sich als Bewahrer traditioneller Werte betrachteten – sowohl im Kollegium seiner Schule als auch und besonders mit der Kirche.

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Inquisitionsgericht

Dies gipfelte im Inquisitionsgericht gegen Jungius im Jahre 1637. Jungius war des „Atheismus“ bezichtigt worden, eine Anschuldigung nicht ganz ohne Gewicht, die ihn, sollte er schuldig befunden werden, seine Stelle kosten konnte. Immerhin drohten im liberalen Hamburg weder Folterhaft noch Scheiterhaufen.

Dieses Glück hatten anderenorts selbst Angehörige gutbürgerlicher Schichten nicht: 1615 war die Mutter von Johannes Kepler in Süddeutschland verhaftet und mit 14 anderen Frauen der Hexerei beschuldigt worden. Gegen acht wurden Todesurteile verhängt und vollstreckt. Katharina Kepler blieb in Haft, bis ihr Sohn die Freilassung erwirken konnte. Sie starb ein Jahr später.

Jungius dürfte davon gewusst haben, Kepler und Jungius, wenn auch nicht persönliche Bekannte, wussten wohl voneinander. Kepler hat Jungius sein 1627 geschriebenes “Tabulae Rudolphinae“ mit Widmung zukommen lassen. Jungius lehrte eventuell 1629 noch in Rostock als Wallenstein versuchte, Kepler dorthin zu berufen.

Die Anfeindungen der Kirche gegen Jungius begannen zwei Jahre zuvor: 1635 war der Dreißigjährige Krieg in vollem Gange, in Europa bekämpften sich katholische Truppen und eine sich reformierende christliche Bewegungen. Doch die Situation war nicht so einfach: Innerhalb der Reformbewegungen in der Kirche herrschte tiefe Uneinigkeit. In Norddeutschland dominierten die Lutheraner das kirchliche Leben, doch aus dem Süden kamen immer mehr Calvinisten, welche in Hamburg auch unterkamen, aber von der Hamburger Kirche nicht akzeptiert wurden. Doch während sich die junge lutherische Kirche mit den Calvinisten in manchen Teilen verständigen konnte, so waren die Differenzen mit den aus England und den Niederlanden kommenden Reformierten unüberbrückbar – auch weil diese viele Praktiken des Luthertums grundlegend und vehement ablehnten. Doch die Stadt Hamburg, in für die Zeit ungewöhnlicher Toleranz und natürlich gegen den Protest der Geistlichkeit, bot auch Reformierten ein Zuhause. Der Protest der Kirche ging so weit, dass die lutherische Kirche in Hamburg anderen „Abspaltern“ von der katholischen Kirche jene Rituale des Christentums zu verweigern suchte, die für einen Lutheraner verpflichtend waren. Eines davon war eine nach dem Maße der Zeit würdige Beerdigung. Allerdings gelang dies nicht in Gänze: In Altona hatten die Reformierten eine eigene Kirche, in welcher sie nach Gutdünken beerdigen konnten. Zudem erlaubte der Hamburger Dom, welcher nicht zum Hamburger Stadtgebiet gehörte und somit nicht der Geistlichkeit der Stadt unterstand, auch anderen Nicht-Katholiken die Beerdigung.

Eine würdige Beerdigung jener Zeit involvierte immer auch die Schulen. Jungius war als Rektor verpflichtet, mit seiner Schülern an der Beerdigung bedeutender Bürger teilzunehmen, ebenso war die Schule verpflichtet, einen Chor zu stellen. Dieser Chor begleitete die Prozession in Richtung Kirche. Die Größe der Prozession sagte viel über die Wichtigkeit der Person aus. Von daher war es weder ungewöhnlich noch anrüchig, Trauergäste gegen Geld zu engagieren.

1635: Mit einer Geste bringt sich Jungius fast um seinen Stelle in Hamburg. Josefine

1635: Mit einer Geste bringt sich Jungius fast um seinen Stelle in Hamburg.

1635 nun hatte Jungius seine Schüler zu einer Beerdigungsprozession im Dom mitgenommen, allerdings zur Prozession anlässlich des Begräbnisses einer Reformierten. In den Augen der Kirche ein Eklat und ein Amtsmissbrauch des Rektors, außerdem ein Verstoß gegen einen Beschluss des Hamburger Rats, den Jungius auch kannte. Für die Kirche war dies die Gelegenheit, ein weiteres Mal zu versuchen, den unbeliebten Rektor loszuwerden. Der Jungius-Biograf Guhrauer schildert, wie Jungius vorgeworfen wurde, in seiner Schule „Philosophie auf Kosten des Christentums“ zu betreiben und wie man ihm mit einer Anklage wegen Atheismus drohte. Die Sache schaukelte sich hoch und schlussendlich musste sich der Hamburger Senat dem Thema widmen. Es kam zu einer Verhandlung, doch Jungius konnte seinen Job behalten.

Vor Barbarismen strotzend

Glaubt man den Ausführungen des Jungius-Biografen Robert Ch. B. Avé-Lallemant, so war der nächste Skandal von einem Lehrer an Jungius’ Schule eingefädelt worden. Bernhard Weremberge hatte sich vor Jungius’ Berufung wohl Hoffnungen auf dessen Posten gemacht und hegte nun einen Groll gegen den Rektor.

Auch missfielen Weremberge Jungius’ Ansätze den Griechisch-Unterricht zu reformieren. Traditionell durfte Altgriechisch ausschließlich anhand des neuen Testaments gelehrt werden, da die Sprache der Bibel im Gegensatz zur Sprache der Profanliteratur als rein galt. Jungius hingegen strebte an, zumindest in geringem Umfang, auch die Texte griechischer Philosophen als Lehrmaterial zu nutzen.

Und so mag es Jungius sogar als unterstützend für seine Position empfunden haben, als unter dem Vorsitz von Weremberge in einer Disputation die Frage von Schülern diskutiert werden sollte, ob das neue Testament „vor barabarismen strotze“ – vor allem, da klar war, dass die Frage mit „nein“ beantwortet werden würde. Doch schon allein, dass der Rektor, vielleicht auch gerade dieser Rektor, erlaubt hatte, die Frage zu diskutieren, genügte den Kirchenoberen, um Pfingsten 1630 den Skandal zu provozieren.

Nach einigen Beschuldigungen und Verteidigungen verpuffte der Skandal, der für kurze Zeit Gelehrte in ganz Deutschland zu beschäftigen wusste. Es folgten Anschuldigungen des Atheismus und Jungius musste sein Rektorat niederlegen. Als Professor der Logik arbeitete er weiter am Gymnasium.

1638 starb seine Frau. Ihr war es schon in den Jahren davor immer schlechter gegangen und sie hatte an Halluzinationen gelitten. Jungius lebte fortan allein in Hamburg. Doch er beklagte sich nicht, vielleicht auch, weil er immerhin einen Job hatte und in Sicherheit lebte. Als er 1639 bei einem ehemaligen Freund in Rostock nach der Rückzahlung einer Schuld fragte, so antwortete dieser „[…] ihr wisset nicht, in welchem stande das land und dise Stadt ist […], hier ist alles zu grunde verderbet […]. Wo kein haar ist, da ist übel leusen. Capital und zinsen sind gleich getroffen [und] unser Statt Kasse giebt nichts. Gott bewahre dise gute Statt.“ Der Krieg hatte große Teile des Landes inzwischen verwüstet und würde noch zehn Jahre weitergehen.

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„Damit wir zu wissen beginnen“

Der Karriere des Jungius als angesehener Lehrer und Gelehrter hingegen taten die persönlichen Schicksale, die Streitigkeiten mit der Kirche und dem Stadtrat oder der Krieg keinen Abbruch. 1638 veröffentlichte er, im Auftrag der Hamburger Schulbehörde, die Logica Hamburgensis, ein umfangreiches Lehrbuch der Logik, welches er auch im Unterricht nutzte und das in den Folgejahren auch an einigen Universitäten zum Einsatz kam. Es handelte sich um ein traditionell strukturiertes Lehrbuch der Logik und widersprach damit durchaus den didaktischen Überzeugungen Jungius’ in manchen Punkten, aber nur so konnte es an Schulen eingesetzt werden. Jungius selbst formulierte, im öffentlichen Unterricht halte er sich an die etablierte Lehrweise, allerdings fühle er sich in seinen Aufzeichnungen über die Wissenschaft nicht daran gebunden, sondern verfasse sie im Geiste eines vielleicht kommenden glücklicheren Zeitalters. Als Kompendium der Mathematik erfuhr die Logica zwar unter vielen Gelehrten, darunter später auch Leibniz, große Anerkennung, sie setzte sich jedoch als Lehrbuch nicht durch.

Das Ansehen, welches er unter Mathematikern in Europa nach Veröffentlichung der Logica genoss, führte auch dazu, dass er als Schiedsrichter bei Uneinigkeiten von Mathematikern herangezogen wurde. Eine damals übliche Praxis, die heute wohl einem Review in einem Journal ähnlich wäre.

1642 veröffentlichte er seine Dissertation in Chemie „Doxoscopiae Physicae Minores“ in welcher er wie andere Forscher seiner Zeit für eine primitive Version des Atommodells warb und die klassische Vorstellung der vier Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser zurückwies. Neben Mathematik und Medizin war er nun auch anerkannter Wissenschaftler der noch im Entstehen begriffenen Chemie.

Seine Schüler gingen nach ihren Abschlüssen in Hamburg an Universitäten in ganz Europa. Mit ihrem ehemaligen Rektor blieben viele von ihnen in reger Korrespondenz. Sie unterrichteten Jungius über die Lehrmeinungen, über philosophische Streitigkeiten, schickten ihm spannende Disputationen und baten ihn um Rat, den er gerne und reichlich erteilte. Sein indirektes Wirken an verschiedenen Universitäten in Deutschland war so deutlich, dass man allerorts von seinen Schülern als „Die Jungianer“ sprach, eine Bezeichnung, die gelegentlich als so angesehen galt, dass sogar einige, die gar nicht unter Jungius gelernt hatten, sondern nur eine ähnliche philosophische Lehrmeinung vertraten, sich als solche bezeichneten.

In jener Zeit begann Jungius damit, sich mit Astronomie zu befassen. Die 1617 in Italien und zuvor schon in den Niederlanden vorgestellte Linse fand langsam Verbreitung und machte sich auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen einen guten Ruf. Auch hier konnte Jungius einige neue Erkenntnisse beitragen und die junge Wissenschaft voranbringen.

Während Jungius von überall über den Zustand der Wissenschaften informiert wurde, resignierte er im Alter was die endgültige Revolution der Wissenschaften anging. War er in den zwanziger und dreißiger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts noch voller Hoffnung, die Physik weg von „wahrscheinliche[n] Pseudobegründungen“ und „Kompromissen zwischen doppeldeutigen Texten“ hin zu einer empirischen Wissenschaft zu entwickeln, so begann er nun zu glauben, dass die Anzahl der gemachten Beobachtungen noch nicht ausreiche, um ein solches Fundament zu legen. So blieben jene Schüler ungehört, die schrieben: „Möge doch jener Tag nicht mehr lange auf sich warten lassen, an dem Ihr uns die gründlich erneuerte Naturwissenschaft schenkt […] damit wir nicht mehr bloß vermuten, sondern zu wissen beginnen.“

1657: Sterben will ich und bei Christo sein.Josefine

1657: Sterben will ich und bei Christo sein.

Tassius, der geplant hatte, sich um den literarischen Nachlass von Jungius zu kümmern, starb 1654 und das Drängen der Jungianer an ihren Lehrmeister, endlich zu veröffentlichen wurde lauter. „Verwende doch die Zeit, welche Dir auf Erden vergönnt ist, darauf, Deine göttlichen Gedanken der Welt mitzutheilen“, flehte Johann Vorstius in einem Brief. „[Es ist] nicht unbekannt, wie ungern Du Dich bestimmen lassen könntest, von Deinen Gedanken etwas heraus zu geben, auch könne nicht jeder Deine Bemerkungen, wie Du sie auf Blättern entworfen hast, lesen. Jetzt mußt Du selbst an die Herausgabe denken, wodurch Du mich und Andere Dir zum höchsten Danke verpflichten wirst.“ Jungius veröffentlichte nicht, und so mussten sich später Biografen wie Avé-Lallemant mit seiner Handschrift auseinandersetzen, welche dieser eine „wahrhafte Geduldsprobe“ nannte.

Im Frühjahr 1656 stürzte der inzwischen 69 Jahre alte Jungius unglücklich und hatte in der Folge etwas Schwierigkeiten zu gehen. Gleichzeitig begann er, vergesslich zu werden. In Briefen äußerte er öfter, dass er bereit sei zu sterben, und zitierte den Apostelspruch “Sterben will ich und bei Christo sein“. Die Stürze häuften sich. Am 17. September 1657 diktierte er, inzwischen bettlägerig, sein Testament. Am 23. September starb Joachim Jungius in Hamburg.

Nachwort

Ein Gesamtwerk der Erkenntnisse von Joachim Jungius wird es nie geben. 1691 fing das Haus des Jungius-Schülers Johannes Vagetius Feuer. Vagetius starb in den Flammen und mit ihm verbrannte ein Großteil von Jungius’ Nachlass, geschätzte 75.000 Seiten, die Vagetius und andere Mitschüler noch hatten aufbereiten und veröffentlichen wollen. Niemand weiß heute, welche Erkenntnisse dabei verloren gingen. Auch seine Bibliothek, die Jungius der Öffentlichkeit vermachte, wurde zerstört, allerdings erst 1942.

Joachim Jungius wird, von Goethe, Leibniz und auch von Newton, in eine Reihe gestellt mit Namen, die uns viel bekannter sind: Kepler, Descartes, Galilei, Bacon, Kopernikus. Der erhaltene Teil seines wissenschaftlichen Nachlasses lässt einen solchen Vergleich eigentlich nicht zu. Dies gesteht auch die Jungius-Forschung unumwunden ein. Der Jungius-Forscher Rudolph Meyer attestiert in einem Vortrag zum 300. Todestag von Jungius in Hamburg 1957: „Wo manifestiert sich diese vorschreitende Arbeit des Jungius? Wir möchten sagen: Sie manifestiert sich nicht in der Wirklichkeit der Forschung und Entdeckung, auch nicht im systematisch durchgeführten Entwurf einer Wissenschaft von der Natur, sondern in der Erkenntnis der Methode, in der Umstellung des Geistes auf die tragende Idee von Wissenschaft. Wir sehen Jungius an der Freilegung eines Bodens beschäftigt, auf dem künftige Naturwissenschaft möglich wird.“ Als der Boden freigelegt war, konnte die Wissenschaft darauf stehen lernen. Wenn Newton 1676 bemerkt, „Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe“, so stehen diese Riesen auf dem Boden, den Jungius und zahllose andere, weitgehend vergessene Wissenschaftler seiner Zeit, beispielhaft könnten Stanislaus Lubienietzki oder Hermann Samuel Reimarus genannt werden, in den Jahren zuvor geebnet haben.

Jungius in die Liste der größten Namen der Wissenschaftsgeschichte einzureihen, verfehlt seine Bedeutung. Denn neben den Newtons und Einsteins der Wissenschaftsgeschichte wird Forschung zum großen Teil von Jenen betrieben, die sich, Stück für Stück, Entdeckung für Entdeckung, Publikation für Publikation, einem Thema nähern, es langsam verstehen und verständlich machen.

Jungius gehörte in einer Zeit, in der die Wissenschaft nicht nur enorme Fortschritte machte, sondern sich auch änderte, was Wissenschaft überhaupt bedeutet, zu jenen, die erkannten und verstanden, wohin es gehen würde. Jene, die in kleinen Schritten dieses Verständnis in die Welt getragen haben und die damit ein neues Zeitalter, wir sprechen heute von der Neuzeit, möglich machten.

Ist unsere Zeit geprägt von der Entdeckung der Elektronik, so ist die zentrale Entdeckung im Umbruch zur Neuzeit die Entdeckung wissenschaftlicher Methodik selbst, die Empirie. Galilei soll gesagt haben, es ginge darum, zu messen, was man messen könne, und messbar zu machen, was man noch nicht messen könne. Es geht also darum, die Natur zu verstehen, indem man sie beobachtet, mit Hilfe der Mathematik ihrer Gesetzmäßigkeit nahe zu kommen, Theorien zu formulieren und diese anhand von Beobachtungen zu verifizieren.

Damit eine solche grundlegende Revolution des Denkens gelingen konnte, brauchte es nicht nur jene, die sie zu formulieren wussten, wie es Descartes und Bacon gelang, und nicht nur jene, die mit ihr exemplarisch große Erkenntnisse zu Tage förderten, wie William Harvey oder Galilei. Es brauchte auch jene, die sie in die Schulen und Universitäten trugen, sie gegen den Mief der Zeit durchzusetzen vermochten und aus einer Denkweise einen Lehrplan machten.

Jungius’ Schüler gingen nach ihrer Ausbildung in Hamburg an Universitäten im ganzen Land, wo sie ihre Erkenntnis weiter verbreiteten, in Referenz auf ihren Rektor als Jungianer bekannt. Das Vermächtnis des Lübeckers ist eine Universitätslandschaft, welche sich bis heute dieser wissenschaftlichen Revolution verpflichtet fühlt.

Es sei erwähnt, dass diese pro-wissenschaftliche, diese moderne, tolerante Interpretation Jungius’ Schaffens nicht die einzig mögliche ist. Der Jungius-Wissenschaftler Adolf Meyer-Albich versuchte sich 1937 an einer nationalsozialistischen Deutung des Lebenswerks, allerdings mit wenig Erfolg.

Jungius blieb Förderer und Antreiber des wissenschaftlichen Fortschritts bis über seinem Tod hinaus. In seinem Testament stiftete Jungius ein Stipendium für Nachwuchswissenschaftler.

„Meine ubrige Güter belangendt, so Ich durch Gottes gnade und segen erworben, als da seind, Haus, Hausgerath, Gold und Silber, Kleider, Betten, alle beweg- und unbewegliche Güter, item Seiden, Leinen und Wollen, selbige sollen und denen hirunten von mir ernenneten Hern Testamentarien bestmöglich verkaufft und zu Gelde gemacht, die gelder in Gewißheit gebracht, auff Zinse beleget und Vier oder Sechs Stipendiaten, nachdem es die Vires der Verlassenschaft künfftig werden ertragen können, von den Jahrlichen Zinsen […] gegeben werden.“

Das Jungius-Stipendium wird noch heute vergeben. Der verbleibende Teil des Nachlasses ist in den vergangenen Jahren in Hamburg digitalisiert worden.

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