St. MarienAlbert Piek | StudentenPACK.

Ein Donnerstag mitten im November. Auf dem Rathausplatz ist der Wochenmarkt in vollem Gange. Doch unser Ziel liegt heute ein paar Meter weiter. Über den Rathaushof vorbei an den kleinen Cafés und Läden bleiben wir stehen und betrachten, was wir gleich von innen erkunden werden. Mit fast 125 Metern Turmhöhe erhebt sie sich bis weit über die Stadtgrenzen hinaus: die Marienkirche.

Noch eine Viertelstunde bis zu unserem Treffen mit Pastor Pfeifer, der uns hinter die Kulissen der Kirche führen wird. Schnell noch die Kamera vorbereiten, dann kommt der große Schreck. Akku alle! Zum Glück finden wir in der Kirche auch für unser Ladegerät Obdach, denn die Damen vom Eintrittsschalter haben uns gerettet, indem sie uns kurz den Kirchenstrom nutzen lassen. Gerade lang genug haben wir Zeit, das Innere der Kirche zu bestaunen, die auch nach all den vorangegangenen Besuchen den Blick unweigerlich nach oben auf die hohen Gewölbe zieht, bis Pastor Pfeifer uns herzlich begrüßt.

30549143544_ec7d8f1eaa_oFabian Schwarze | StudentenPACK.

Heute werden wir die Bereiche der Kirche erkunden, die normalerweise den vielen Besuchern der Kirche verschlossen bleiben. Deshalb geht es mit den Kirchenschlüsseln ausgestattet zugleich quer durch das Kirchenschiff zur nordöstlichsten Ecke, von wo aus eine unscheinbare Tür zum Vorraum der Sakristei führt. Schon dieser Vorraum bietet das erste spannende Detail, insbesondere für die physikalisch Interessierten – die Hauptuhr der großen astronomischen Uhr. Sie ist eine seltene „Magneta“-Uhr, die ihr kompliziertes Uhrwerk durch magnetische Impulse mit der notwendigen Energie versorgt.

Durch die Sakristei, in der sich die Pastoren auf die Messe vorbereiten, gelangen wir nun zu einer engen Wendeltreppe, welche uns viele Meter nach oben führt. Diese zum Gewölbe der Seitenschiffe führende enge Treppe – noch enger als beispielsweise die des Kölner Doms – wird auch bei Führungen seit geraumer Zeit nicht mehr genutzt. Umso mehr steigt die Spannung auf das, was uns oben erwartet. Auf gut der Hälfte der Höhe verlassen wir die Wendeltreppe und finden uns auf einer Anhöhe im Kirchraum wieder. Dort befindet sich das Lapidarium der Kirche. Das lateinische „lapis“ (zu Deutsch „Stein“) erklärt seine Funktionalität: Hier werden Trümmersteine aufbewahrt, welche nach dem Bombenangriff auf Lübeck Palmarum 1942 gefunden, aber nicht wieder eingebaut wurden.

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Auch im weiteren Verlauf unseres Weges erkennen wir immer mehr, dass der verheerende Angriff eine Zäsur in der Baugeschichte der Kirche darstellt. Das zunächst ab 1173 als romanische Backsteinkirche errichtete Bauwerk hat viele Um- und Anbauten erlebt; den größten stellt dabei der Umbau von 1277 bis 1351 zur gotischen Basilika dar. Lediglich zwei der großen Stützsäulen zeugen noch von dem romanischen Vorgängerbau. Dennoch sind die Schäden durch die Bombennacht vom 28. zum 29. März 1942 so immens, dass die Kirche kaum ihrer alten Gestalt gleicht. Weltberühmte Orgeln, die mittelalterlichen Fenster, bedeutende Kunstwerke wie der Lübecker Totentanz und ein Großteil der barocken Einrichtung wurden Opfer der Flammen.

Im Gewölbe des südlichen Seitenschiffs, am Chor vorbei, angekommen sehen wir die Ergebnisse der massiven Wiederaufbaubemühungen nach dem zweiten Weltkrieg. Große, wenn auch nicht alle Bereiche des Dachs sind durch Leichtbetonplatten stabilisiert. Auch viele der Gewölbekuppeln sind mit Beton verstärkt Doch auch das stellt keine langfristige Lösung dar: Vielerorts entstehen Risse, die mittels Sensoren computergesteuert überwacht werden müssen.

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Bevor es in die Türme geht bekommen wir die Gelegenheit, die Empore der Orgel zu betrachten. Wir merken, dass sie von unten deutlich kleiner wirkt. In die größten Pfeifen, von denen es über 8500 gibt, findet ein schmalerer Mensch durchaus Platz – wenngleich keinen allzu gemütlichen. Die Orgel selbst ist mit moderner Technik ausgestattet: Damit der Organist während eines Gottesdienstes seinen Einsatz erkennt, wird der Altar per Videokamera übertragen.

Von der Orgelempore aus haben wir auch einen guten Blick auf die mittelalterlichen Malereien, die das Triforium zieren – so wird das Mittelgeschoss zwischen den Arkaden im Erdgeschoss und dem Fensterbereich des Mittelschiffes genannt. Diese sind wohl eine der wenigen positiven Folgen des Bombenangriffs, denn sie wurden erst durch das Abblättern der in den Flammen erhitzten weiße Farbe der Barockeinrichtung wiederentdeckt. Nach dem Krieg wurden so die bunten Malereien in der gesamten Kirche freigelegt und die Einrichtung, nachdem das barocke Inventar verbrannt war, regotisiert.

Lediglich gegenüber der Orgelempore im Chor hinter dem Altar sind einige Flächen weiß – das Ergebnis eines der größten Kunstfälscherskandale in Nachkriegsdeutschland. Nachdem bei den Restaurationsarbeiten zu gründlich gearbeitet und auch die mittelalterliche Bemalung unbeabsichtigt entfernt wurde, legte der Restauratur persönlich den Pinsel an. Zuerst von namhaften Fachleuten gefeiert, wurden die Malereien nach Bekanntwerden der Fälschung auf Geheiß des Kirchenvorstandes wieder abgewaschen.

Durch diese im Rückblick sehr komische Geschichte aufgeheitert begeben wir uns weiter im Gewölbe entlang bis zum Südturm. Direkt unter uns, durch eine dicke Gewölbeschicht und fast 40 Höhenmeter getrennt, liegen die zerschmetterten und zerbrochenen Reste zweier der ältesten Kirchenglocken. Über uns geht es dreimal so hoch bis zur Kirchturmspitze, doch wir biegen zunächst ab zum Dach des alten Mittelturms, der die romanische Kirche zierte und heutzutage kaum als eigener Turm wahrgenommen wird.

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Pastor Pfeifer öffnet uns ein „Fenster“ (wir würden es eher als Portal bezeichnen, würde das Durchschreiten nicht einen Sturz in die Tiefe bedeuten). Nach den düsteren Lichtverhältnissen in den Gewölben blendet uns das grelle Licht des Novemberhimmels. Doch sobald sich unsere Augen daran gewöhnen, bietet sich ein atemberaubender Blick auf das Gründerviertel, die Trave und das Holstentor. Eine ungewohnte Perspektive, wenn man nur die Aussicht von St. Petri kennt.

Getrübt wird die Sicht nur durch die an den Türmen befestigten Baugerüste. Diese zieren die Türme nun schon seit geraumer Zeit. Nicht etwa wegen akuter Bauarbeiten, sondern aufgrund des Schutzes der Passanten und der Kirche, erklärt Pastor Pfeifer. Einerseits schützen die Netze vor Starkregen, andererseits vor möglichem Steinschlag. Die nicht unerheblich großen Risse, die sich durch die bis zu fünf Meter dicken Türmwände ziehen, stellen die Instandhalter vor große Probleme. Vermutungen zufolge entstehen die Risse erst durch den Wiederaufbau der Kirche. Während früher mit Gipsmörtel gearbeitet wurde, wurde die Kirche hier mit Zement repariert. Kommen beide zusammen, können bauwerksschädigende Treibmineralien entstehen, die die Wände auseinanderdrücken.

Robert Pfeifer ist seit 2011 einer der beiden Pastoren der Marienkirche. Mit vielen spannenden Geschichten führt er uns durch die Gewölbe der großen KircheFabian Schwarze | StudentenPACK.

Robert Pfeifer ist seit 2011 einer der beiden Pastoren der Marienkirche. Mit vielen spannenden Geschichten führt er uns durch die Gewölbe der großen Kirche

Der Mittelturm bietet den Zugang zum Gewölbe des Mittelbaus. Dieses ist noch deutlicher als die Seitenschiffe stabilisiert durch Betonpfeiler und Platten. Mit vereinzelten Blicken durch die kleinen Dachfenster durchqueren wir die lange Halle zum Aufstieg zum Dachreiter von dem sich uns erneut ein faszinierender 360-Grad-Blick über Lübeck bietet. Von den beiden Kirchtürmen zum Buddenbrook-Haus zur Jakobi-Kirche und dem Riesenrad des Weihnachtsmarkts auf dem Koberg bis zum Katharineum; von der Aegidienkirche über den Uni-Turm, welcher in der Ferne noch leicht zu erkennen ist, zum Rathausplatz, der Petri-Kirche, dem Dom und zuletzt dem Holstentor. Schon dieser Ausblick lohnt den Aufstieg auf die mittlerweile knapp 60 Meter Höhe.

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Zurück im Mittelturm geht es noch einmal kurz zum Nordturm. Dieser ist nur über einen schmalen Gang auf dem Dach erreichbar. Hier können wir die letzten Treppen zum Glockenraum erklimmen. Wie auf ein Zeichen hat es unser Kamera-Akku bis hierhin geschafft. Alles noch einmal gut gegangen. Durch eine weitere Wendeltreppe – kaum größer als die erste – gelangen wir den Weg schnell wieder herunter und finden uns, nicht ohne leichtes Erstaunen, fast sofort in den „normalen“ Räumlichkeiten der Kirche wieder, wo sich Pastor Pfeifer von uns verabschiedet. Mit vielen tollen Impressionen verlassen wir die Kirche, denn schon ruft wieder die Uni. Es wird bestimmt nicht der letzte Besuch gewesen sein.

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