Dr. med. Peter Delius absolvierte nach der Vorklinik in Berlin von 1980 bis 1984 den klinischen Abschnitt des Medizinstudiums an der Medizinischen Akademie bzw. Hochschule Lübeck und arbeitete im Anschluss daran noch einige Jahre in Lübeck. 1995 ließ er sich nach seiner Zeit in Bonn und Hamburg als Psychiater und Psychotherapeut in Lübeck nieder.

StudentenPACK: Von 1980 bis 1984 haben Sie in Lübeck studiert, was waren in dieser Zeit Ihre drei prägendsten Ereignisse?

Peter Delius: Sie müssen sich vorstellen, dass die Zeit damals für heutige Verhältnisse in unglaublichem Maße politisiert war. Das bezog nicht alle Studenten und Studentinnen ein, aber einen sehr großen Teil. Deswegen haben auch mindestens zwei der Dinge, die mich geprägt haben, im weitesten Sinne mit Politik zu tun. Das eine ist die Zeit, in der ich AStA-Vorsitzender war und die Studentenschaft in Gremien und auch bei einigen Demonstrationen vertreten habe. Das zweite war gegen Ende meines Studiums die Beschäftigung mit der Heilanstalt Strecknitz und damit, was dieses Thema innerhalb der Hochschule für Wogen geschlagen hat. Das dritte ist eine Fahrt nach Bergen als Studierendenvertreter, eingeladen von der dortigen Universität im Rahmen der bestehenden Partnerschaft. Wir waren ungefähr 20 Studierende und wurden dort empfangen wie die Könige, wie die Vertreter der Hanse in einer Hansekolonie. Wir waren sehr beeindruckt von der Gastfreundschaft und all dem, was unsere Gastgeber uns geboten haben und sehr beschämt, als sich später herausstellte, dass die norwegischen Studenten ein halbes Jahr vorher da gewesen waren und keiner sie beachtet hatte. Sie waren in einer Jugendherberge untergebracht worden und hatten große Schwierigkeiten, überhaupt Anschluss zu finden. Das spiegelte – historisch gesehen – vielleicht ein bisschen das Verhältnis von Lübeck, der Königin der Hanse, zu seiner kleinen norwegischen Kolonie in Bergen wider. Das war jedenfalls etwas, was mir bleibend in Erinnerung geblieben ist.

StudentenPACK: Wie spiegelte sich die allgemeine Politisierung auf dem Campus wider?

Delius: Vorweg sollte ich vielleicht ein bisschen zu meiner Vorgeschichte sagen: Ich bin aus Berlin gekommen, wo in unserem Semester ungefähr so viele Studenten waren wie in der ganzen Hochschule in Lübeck. Vorher war ich ein Jahr in Portugal und Westafrika, um dort revolutionäre Bewegungen zu unterstützen. Das erzählt sich heute etwas anekdotisch, doch damals haben sich viele Studenten verschiedener Fachrichtungen ähnlich betätigt. Ich kam dann sehr politisiert aus Berlin nach Lübeck und wurde so etwas wie Klassensprecher In dieser sehr beschaulichen und übersichtlichen Hochschule. Es gab damals verschiedene politische Gruppierungen: Zwei linke, von denen sich eine an der ehemaligen DKP orientierte und dann die „Linke Liste“, in der ich kandidiert habe, die zwischen Sponti-tum und den damaligen K-Gruppen einzusortieren war. Dann gab es natürlich auch „rechte“ Gruppen, die aber auch relativ liberal waren. Wir waren ein super Team. Wir haben viel Spaß miteinander gehabt, uns an vielen Wochenenden getroffen – teilweise in den Häusern von Kommilitonen – und uns mit Studentenpolitik beschäftigt.

StudentenPACK: Was waren zu der Zeit hochschulpolitisch die wichtigsten Themen?

Delius: Damals gab es Berufsverbote für verschiedene Studenten, die ihr Studium abgeschlossen hatten, da haben wir uns engagiert. Außerdem ging es um die Mitbestimmungsmöglichkeiten in Gremien, weil die Studenten damals eher wenig Rechte hatten. Dann gab es eine wichtige Ringvorlesung zum Thema Medizin im Nationalsozialismus, die mich auch sehr geprägt hat – daraus ist dann auch meine Doktorarbeit hervorgegangen. Ansonsten ging es auch um einige Hochschullehrer, denn – das können Sie sich heute gar nicht mehr vorstellen – die erste Generation der Hochschullehrer in Lübeck war nicht die erste Garde. Da gab es einige, die wenig qualifiziert oder auch als Persönlichkeiten schräg waren, mit schwersten Suchtproblemen bis hin zu – als Psychiater würde ich heute sagen: schweren Persönlichkeitsstörungen. Aber so ist das, wenn eine Hochschule entsteht. Da gibt’s eben auch so eine Phase.

StudentenPACK: Es gab in den Achtzigern ja durchaus einiges an Demonstrationen, Klausurboykotten und ähnlichem. War so etwas auch bei Ihnen ein Thema?

Delius: Ja. Es gab mehrere Demonstrationen, bei denen es um die Berufsverbote ging, oder um bundesrepublikanische Studentenpolitik. Wir sind da auf die Straße gegangen und 100-200 Studenten sind mitgegangen. Bei 500 Studenten ist das schon ein wirklich großer Anteil.

StudentenPACK: Wie war das mit den Berufsverboten? Es gab schließlich auch in Lübeck einen Fall…

Delius: Ja. Das war Reinhard Fröschlin. Ein Kollege, der in Bad Segeberg in einer Klinik arbeitet und dort leitender Oberarzt geworden ist. Damals wurde er wegen seiner Mitgliedschaft in der Studentenorganisation der DKP nicht in den öffentlichen Dienst aufgenommen und konnte für einige Jahre nur in privaten Kliniken arbeiten. Zum Verständnis muss man vielleicht noch dazu sagen: Im Osten der BRD, da waren nur Diktaturen. Die Demokratie, wie wir sie heute so selbstverständlich erleben, war damals noch umgeben von Diktaturen. Da gab’s die DDR, da gab es Polen… Es war alles noch nicht so selbstverständlich, deswegen waren die politischen Auseinandersetzungen auch viel schärfer und existenzieller.

StudentenPACK: Im August 1983 gab es im AStA eine Hausdurchsuchung wegen einer SpriPu-Ausgabe, die im Rahmen der Friedensbewegung forderte, direktere Widerstandsformen zu ergreifen. Haben Sie davon etwas mitbekommen?

Delius: Zu der Zeit war ich schon im PJ und habe das nicht mehr richtig mitbekommen. Ich überlege mal, ob ich noch jemanden kenne, der dabei gewesen sein könnte.

StudentenPACK: Politisch war während Ihrer Studienzeit also sehr viel los. Wie waren der AStA beziehungsweise die Studenten untereinander organisiert?

Delius: Das ist eine nicht ganz einfache Frage. Es gab damals schließlich keine sozialen Netzwerke und Informationen wurden händisch weiterverbreitet – mit handgeschriebenen Zetteln, die kopiert und irgendwo verteilt wurden. Aber gewisse Knotenpunkte gab es doch, wo die Studenten immer wieder hinmussten, beispielsweise in die Mensa. Dort lief man sich häufig über den Weg und dadurch haben sich dann die Informationen verbreitet, wie zum Beispiel dass eine Demo stattfand. Und es wurde ja auch gefeiert, dabei unterhielt man sich dann auch über so etwas. Die vom AStA bekanntgemachten Veranstaltungen standen damals aber auch nicht in so großer Konkurrenz zu anderen Veranstaltungen, wie das heute der Fall ist.

StudentenPACK: Während Ihres Studiums wurde die Vorklinik in Lübeck eingeführt. Wie haben Sie das miterlebt?

Delius: Daran habe ich eigentlich keine richtige Erinnerung. Es wurde eben größer, aber an mehr kann ich mich da nicht erinnern. Es blieb – gerade im Vergleich zu Berlin – klein und vieles lief über persönliche Beziehungen.

StudentenPACK: Kurze Zeit bevor Sie zum Studieren nach Lübeck kamen, wurden hier die Multiple Choice-Fragen eingeführt. Am Anfang stieß das auf sehr viel Widerstand. War das bei Ihnen auch noch ein Streitthema oder schon Standard?

Delius: Ich war da schon domestiziert – in Berlin war das normal. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass das Thema gewesen wäre.

StudentenPACK: Auch die Heilanstalt Strecknitz war während Ihrer Studienzeit ein wichtiges Thema, Sie erwähnten bereits am Anfang eine Ringvorlesung. Wie kam es, dass gerade dann viel über die Vergangenheit des Campus in der NS-Zeit gesprochen wurde?

Delius: Anlass dafür waren die Äußerungen eines Professors für medizinische Statistik und Dokumentation, der die Leitsätze der deutschen Wehrmacht als im Grunde genommen immer noch gut geeignet für heutige Medizinstudenten ansah und das auch öffentlich geäußert hat. Außerdem hat 1980 ein sogenannter „Gesundheitstag“ in Berlin stattgefunden, bei dem zum ersten Mal breit, also für Tausende, öffentlich wurde, was in den Jahren zuvor innerhalb der Ärzteschaft verschwiegen wurde: die Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus. Ich habe diesen Gesundheitstag mitorganisiert und sicher auch gedanklich etwas davon aus Berlin mitgebracht. Professor Dilling, der Leiter der psychiatrischen Klinik, hat uns damals Akten über die Patienten in Strecknitz zur Verfügung gestellt. Besser gesagt: Er hat uns den Schlüssel zu einem Raum gegeben und gesagt, dort könnte was zu finden sein, oben im Turm. Da haben wir dann gesucht, die Akten gefunden und schließlich publiziert. Vielleicht kennen Sie die Dokumentation dazu aus der Bibliothek, ein orangenes Heft.

StudentenPACK: Wie ging es weiter als die Vorgeschichte an der Hochschule bekannt wurde?

Delius: Da ging’s dann richtig hoch her! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig das war, damals über die Geschichte der Universität oder damals der Medizinischen Hochschule zu sprechen, weil das als Nestbeschmutzung galt. Die Akteure – das waren außer mir noch zwei, drei andere – wurden nicht nur zeitweise aus den Gremien ausgeschlossen, sondern richtig bedroht – sogar mit Mord. Das war ein Hochschullehrer, der uns damals bedroht hat, kein kleines Licht. Über die Heilanstalt Strecknitz zu sprechen wurde damals nicht als historische Aufarbeitung empfunden, sondern als Makel auf dieser jungen Hochschule angesehen. Es wurde vielmehr die Gefahr gesehen, dass diese naturwissenschaftliche Hochschule kontaminiert werden könnte mit der Ermordung beziehungsweise Deportation von psychisch Kranken.

StudentenPACK: Letzten Endes wurde auf dem Campus ein Mahnmal aufgestellt. Das durchzusetzen war sicher auch nicht ganz einfach…?

Delius: Nein, das war wirklich nicht einfach. Da haben sich dann aber einige Hochschullehrer auch wirklich drum verdient gemacht. Die Studenten alleine hätten das damals nicht durchsetzen können. Lange Zeit ging es darum, ob es eigentlich „Mahnmal“ heißen darf, weil es einigen – auch dem damaligen Präsidenten der Medizinischen Hochschule – viel zu weit ging, dass da „gemahnt“ wurde. Es sollte eher eine neutrale Information sein.

StudentenPACK: Bis von studentischer Seite dieses Mahnmal in Angriff genommen wurde, wurde die Campus-Geschichte vor der Gründung der Hochschule also komplett totgeschwiegen?

Delius: Bis 1980 war im Vorlesungsverzeichnis kein Wort über die Tatsache zu finden, dass die Medizinische Hochschule in den Gebäuden eines psychiatrischen Krankenhauses gegründet wurde, deren Insassen vorher deportiert wurden.

StudentenPACK: Fächer wie Medizingeschichte gab es damals vermutlich auch schon?

Delius: Ja, die gab es auch schon. Der damalige Leiter der Medizingeschichte in Kiel, Professor Kudlien, hat sich damals sehr für die Aufarbeitung engagiert, auch gegenüber seinen Fachkollegen. Für viele von den Medizinhistorikern war das gar kein Thema, weil sie fanden, dass Geschichte nicht Zeitgeschichte sein darf, sondern zurückliegen muss. So ist es mit der Bewältigung der NS-Verbrechen – es müssen mehrere Generationen darüber hinweggehen; die letzten Täter müssen, na ja, nicht gestorben, aber zumindest so alt sein, dass sie nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen werden können. Dann kann darüber so pragmatisch gesprochen werden, wie Sie das heute tun. Doch damals waren noch zu viele Väter involviert in die Geschichte des Nationalsozialismus, die als drohende Instanz im Hintergrund immer spürbar waren.

StudentenPACK: Gab es unter den Ärzten oder Professoren in Lübeck noch jemanden, der in die Geschehnisse der NS-Zeit noch direkt verwickelt war?

Delius: Da kann ich mich nicht daran erinnern, dass es direkte Verstrickungen gab. Wir haben etliche Interviews mit Menschen geführt, die damals noch lebten: Wir haben mit einer Reihe von Krankenpflegern gesprochen, die in Strecknitz gearbeitet hatten, und mit einer Ärztin. Die war zu dem Zeitpunkt schon weit über 90 und wollte mit all dem eigentlich nichts mehr zu tun haben.

StudentenPACK: Auch nach Ihrem Studium haben Sie Lübeck nicht für immer den Rücken gekehrt, sondern noch einige Zeit in der MHL gearbeitet und sich schließlich hier niedergelassen. Was haben Sie dann noch von der Universität mitbekommen?

Delius: Ich habe dann noch fast zehn Jahre mit der psychiatrischen Klinik zu tun gehabt und mich dort auch wissenschaftlich betätigt. In der Zeit war mir die Uni natürlich nah – danach aber immer weniger, es gab dann doch immer weniger Gemeinsamkeiten zwischen einem niedergelassenen Arzt und den Studenten. Das ist schade, aber so ist das Leben.

StudentenPACK: Von „Lübeck kämpft“ haben Sie sicher trotzdem noch etwas mitbekommen?

Delius: Da habe ich nicht so viel mitbekommen, ich war gerade zu der Zeit vier Wochen im Urlaub. Das hat mich geärgert. Aber das, was hier stattgefunden hat, war eine tolle Aktion.

StudentenPACK: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben!

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