StudentenPACK: Für den klinischen Studienabschnitt kamen Sie 1973 nach Lübeck. Wie hat sich das ergeben und wie war Ihr Start hier?

de Bary: Wir kamen damals mit mehreren aus Mainz. Wir beide und noch ein Kommilitone aus unserer Physikumsgruppe hatten beschlossen, zusammen weiter zu studieren. Wir hatten uns in verschiedenen Städten beworben, unter anderem auch in Kiel und Lübeck. Lübeck hat uns als erstes alle zusammen genommen. Außerdem erinnere ich mich noch an das, was meine Patentante sagte: „Ach, wenn, dann geh nach Lübeck – Kiel ist so zerbombt, das ist nicht schön!“

Hoffmann: Als Auswärtige hatten wir allerdings erstmal ein Wohnungsproblem. Einige von uns Neuen sind dann in Räumlichkeiten des damaligen Lysia-Hotels untergekommen. Aber als wir dort dann anfingen, mit unseren Tauchsiedern auf den Tischen zu kochen, wurden wir vorsichtig hinauskomplimentiert. Für uns war das natürlich trotzdem eine tolle Unterkunft – und das kostenlos. Das hatte Herr Mann, der damalige Leiter des Studenten-Sekretariats, irgendwie so eingefädelt.

de Bary: Die vom Hotel wollten damals ein bisschen Publicity und haben deswegen angeboten, Studenten dort umsonst für zwei, drei Semester aufzunehmen.

Hoffmann: Als wir uns dann etwas anderes suchen mussten, haben wir bei einer Großfamilie mit vier Kindern und zwei Hunden gewohnt. Die Familie war finanziell in Bedrängnis geraten und musste Zimmer vermieten; dort haben wir beide und noch ein Mainzer Studienkollege gewohnt. Wir gehörten dort wirklich zur Familie. Diese sehr herzliche Aufnahme hat uns gut gefallen, das hat schon Eindruck auf uns gemacht! Die beiden Eltern gingen dann morgens früh zur Arbeit und wir haben uns um Frühstück und Schulbrote für die Kinder gekümmert, dafür hat die Mutter unsere Wäsche gewaschen. Noch dazu hatte die Familie einen Pool, das war super – besonders weil unser erster Sommer in Lübeck ein Jahrhundertsommer war. Nach dem Frühstück am Pool haben wir uns dann so gegen zwölf auf den Weg in die Mensa gemacht…

StudentenPACK: Wie war denn das Studium damals?

Hoffmann: Es war ein sehr lockeres Studium. Sehr frei und liberal, weit von der Verschulung heute entfernt. Bis zum Examenssemester war da sehr viel Kapazität für Freizeitaktivitäten. Und die individuelle, sehr freundliche Betreuung an einer so kleinen Hochschule war aus studentischer Sicht auch von Vorteil.

de Bary: Es waren zwar nicht gerade die größten Didaktiker, die unsere Vorlesungen gehalten haben, aber gerade was die Kurse anging, war es schon gut. In die Kurse, die man machen wollte, kam man immer rein und bei kleinen Gruppen von sechs bis acht Leuten war die Betreuung wirklich sehr gut. Und wenn sie im Klopfkurs gerade keinen Patienten hatten und man wirklich interessiert war, dann hieß es auch „Komm doch nächste Woche wieder, vielleicht haben wir dann wieder ein Lungenödem.“ Das war alles ganz locker.

StudentenPACK: Was waren Ihre drei prägendsten Ereignisse während der Studienzeit in Lübeck?

de Bary: Dazu sage ich drei Dinge – Zolln, Zentrum und montags gibt’s keine LN.

Hoffmann: Oh ja, im Zolln, da waren wir immer nach dem Sport. Direkt gegenüber ist ja die Turnhalle und im Zolln konnte man danach die verlorene Flüssigkeit wieder auffüllen. Das war damals schon ein wichtiger Ort der Kommunikation.

de Bary: Wir waren da nicht selten. Bis das mit dem Zentrum aufkam, gab es auch keine richtige Konkurrenz. Das Zentrum war ein Studentenzentrum in der Alfstraße, finanziert von den Freunden und Förderern der MAL. Im Grunde war es eine kaum genutzte Kneipe mit einer kleinen Küche und einem Probenraum zum Musikmachen. Als wir 73 gekommen sind, hieß es, das Zentrum solle zugemacht werden, weil es zu teuer sei. Der Besitzer hatte wohl die Miete erhöht, das war alles ziemlich undurchsichtig. Das Studentenwerk kam schließlich mit ins Boot und hat die Nebenkosten übernommen, die höhere Miete sollte dadurch wieder reinkommen, dass wir mehr Leute auf das Zentrum aufmerksam machen, die dort hinkommen. Wir haben dann auch an der Fachhochschule und der Musikhochschule Reklame gemacht, damit das Zentrum kein „elitärer Medizinerclub“ war, sondern ein wirklich breites Besucherspektrum hatte. Freitags und samstags spielten dort Bands, dann wurde es richtig voll. Manchmal gab es auch Events wie das „Gaudi-Med“, das Fastnachtsfest. Das ging von Freitag Abend bis Montag Früh – es war durchgehend geöffnet. Da war es wirklich so, dass wenn neue Leute ins Gebäude wollten, dann mussten vorher woanders welche rausgehen. Beim ersten Mal, als wir das richtig groß aufgezogen haben, da mussten wir Sonntag Morgen noch losfahren, unseren Bierlieferanten rausklingeln und noch ein paar Fässer Bier nachholen. Das war das Zentrum. Als wir ´76 mit dem Studium aufgehört haben, lief das noch ein, zwei Jahre weiter, doch dann wurde es dichtgemacht.

StudentenPACK: Sie saßen damals im ersten Lübecker Studierendenparlament. Wie sah es mit der Motivation der Studenten, sich dort einzubringen, aus?

de Bary: Ich glaube, das erste StuPa war mit 20 oder 22 Leuten im Verhältnis zu etwa 300 Studierenden riesig groß. Es wurden jedenfalls genug Leute aufgestellt und gewählt, das Interesse war schon da. Politische Studentenvereinigungen wie den sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB), den Marxistischen Studentenbund (MSB) Spartakus oder den Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) gab es hier aber gar nicht, die haben sich hier auch nie etabliert.

Hoffmann: „Schlachten“ zwischen diesen einzelnen Fraktionen wie in anderen Großstädten gab es dementsprechend auch nicht, aber der Wettbewerb der Systeme zwischen der Bundesrepublik und der DDR war schon präsent. In einem Arbeitskreis haben wir uns mit dem Gesundheitssystem der DDR beschäftigt und dachten beim Lesen, dass das alles ganz toll klingt – wir haben uns sogar mal mit dem Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung getroffen und stark dafür plädiert, dass man auch unser Gesundheitswesen komplett verstaatlicht. Mit solchen Themen hat man sich damals auch privat viel beschäftigt.

StudentenPACK: Während Ihres Studiums wurde die Approbationsordnung (AO) mehrfach geändert. Inwieweit war das für Sie ein Thema?

de Bary: Wir selbst waren von der Veränderung noch nicht betroffen, denn als wir das Studium begonnen haben, galt noch die Bestallungsordnung (BO). Im StuPa war die AO aber auf jeden Fall ein wichtiges Thema, gerade über das Praktische Jahr mit der darauf folgenden Abschlussprüfung wurde viel gestritten.

Hoffmann: Wir haben ja noch nach der BO studiert und mussten noch nicht das Praktische Jahr, sondern ein Jahr als Medizinalassistent absolvieren. Wir lebten noch im Paradies: Während der Zeit als Medizinalassistent erhielt man ein halbes Gehalt und danach ohne weitere Prüfungen die Approbation. Das PJ war deswegen eine deutliche Verschlechterung, nicht nur finanziell.

StudentenPACK: Gab es weitere wichtige Themen im StuPa, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind?

de Bary: Wenn ich mich richtig erinnere, wurde damals die ganze Verwaltungsstruktur der Hochschule umgekrempelt. Es kamen das Konsistorium und ein externer Präsident, das gab es vorher nicht. Davor war das Amt als Verwaltungschef eher ein Ehrenamt, parallel zur Arbeit in der Klinik. Doch mit diesen Veränderungen wurde etwas Klarheit geschaffen, auch über die Zusammensetzung des Konsistoriums und, ob Studenten mitbestimmen durften oder nur angehört wurden. So ganz genau weiß ich das nicht mehr, aber eine Legislaturperiode lang saß ich da auch mit dabei. Ein ganz heißes Thema war auch, ob der AStA ein allgemeinpolitisches oder nur ein hochschulpolitisches Mandat hatte. Wenn der AStA damals irgendein Statement abgegeben hat, beispielsweise an die LN, dann kamen gleich einige und meinten, der AStA dürfe dazu nicht Stellung nehmen.

StudentenPACK: Hat sich dadurch, dass Lübeck von Kiel unabhängig wurde, irgendetwas geändert?

Hoffmann: Das ist schwer an einer konkreten Sache festzumachen. Als ich nach dem Studium noch in der Klinik gearbeitet habe und die alte Garde abtrat, da kamen die Münchner. Die haben Lübeck quasi als Durchlauferhitzer für ihre Karriere genutzt, weil es hier leichter war, eine Chefarztstelle zu besetzen. Die haben hier allerdings auch viel bewegt und einen etwas moderneren Betrieb aus dem Krankenhaus gemacht. Auch Scriba, der hier später Präsident wurde, kam ursprünglich aus München.

de Bary: In der Zeit kam auch eine Hochschulreform. Teilweise war es ein Schuss ins eigene Knie, was da gefordert wurde: Das Chefarztsystem sollte abgeschafft werden. Chefs gab es natürlich trotzdem weiterhin, aber das musste dann alles demokratisiert werden. Das führte dazu, dass viele Kliniken in einzelne Abteilungen aufgeteilt wurden, abhängig davon, was für Ärzte gerade da waren. In der Inneren zum Beispiel gab es nicht Nephrologie, Pneumologie oder andere große Fächer, sondern abgesehen von der Kardiologie eher kleine wie Psychosomatik und Angiologie.

Hoffmann: Daran hat sich erst mit den Münchnern wirklich was verändert, vorher war es hier sehr verschlafen. Die Münchner haben hier sehr auf die Unabhängigkeit von Kiel gesetzt. Auch, dass Lübeck dann ein eigener Universitätsstandort wurde – von vielen wurde das lediglich als Umetikettierung wahrgenommen, aber für Lübeck als Stadt war das ein ganz wichtiger Schritt.

StudentenPACK: Ich habe hier eine Resolution des Stuttgarter AStA mitgebracht, die 1976 in der Lübecker Studentenzeitung veröffentlicht wurde. Darin steht, dass „in der Lübecker Bucht […] ein Kriegsschiff der ehemalig sozialistischen SU ihr Unwesen [treibt].“ Was war da los?

Hoffmann: Das ist denke ich nicht wörtlich zu nehmen. Ich glaube, dass hier der MSB Spartakus als Vertreter der DDR und des sowjetischen Sozialimperialismus als U-Boot betrachtet wird – so verstehe ich das.

de Bary: Ich bin auch der Meinung, dass man das nicht wörtlich nehmen kann. Wenn da ein Boot rumgekreuzt wäre, das da nicht hingehört, das hätte einen riesigen Wirbel gegeben.

StudentenPACK: Was haben Sie damals von den Berufsverboten für Lübecker Ärzte mitbekommen?

Hoffmann: Nach meiner Medizinalassistenz war ich in Segeberg in der Privatklinik, dort habe ich einen anderen ehemaligen Lübecker Studenten getroffen, von dem alle wussten, dass er beim KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) war. Im öffentlichen Dienst war es schwierig unterzukommen, wenn man in der DKP war, und viele sind dann zum Beispiel nach Segeberg gegangen. Die Alternativen war, sich niederzulassen, denn so viele Privatkliniken gab es damals nicht.

de Bary: Ich habe da auch noch einen vor Augen, der ging meine ich nach Schönberg.

StudentenPACK: Wusste man als Student sicher, was man nicht tun darf, um nicht auf dieser „schwarzen Liste“ der Berufsverbote zu landen?

de Bary: Nicht sicher. Man durfte nicht nachgewiesenermaßen zu links sein. Der Verfassungsschutz auf dieser Seite war da sehr aktiv.

Hoffmann: Wenn man in der Stadt auf der Straße irgendwas unterschrieben hat, dann konnte das schon bedeuten, dass man damit auf die schwarze Liste kam. Wir haben uns damals aber nicht so viele Gedanken um die Zukunft gemacht, ob wir Flugblätter verteilen dürfen oder dann später nicht im öffentlichen Dienst unterkommen. Das war weit weg.

StudentenPACK: Gibt es noch irgendwelche kuriosen Geschichten, an die Sie sich erinnern und über die wir bisher nicht gesprochen haben?

de Bary: Doch, ja. Als ich nach dem Studium in der Kinderklinik gearbeitet habe, da wohnte ein junger Mann in der Neuropädiatrie. Der wohnte da, in einem Patientenzimmer. Er war der Sohn eines Lübecker Gesundheitssenators oder über andere Ecken mit diesem verbandelt, jedenfalls war er dort zur Berufsfindung aufgenommen worden. Er ging morgens weg, machte mal hier und mal dort ein Praktikum, kam abends wieder und schlief dann da. Das ging mindestens ein Dreivierteljahr so, das muss man sich mal vorstellen. Es gab eben noch keine DRG’s.

StudentenPACK: Was haben Sie nachdem Sie mit dem Studium fertig waren noch von der Uni mitbekommen?

Hoffmann: Die „Rettet die Uni“-Aktion haben wir natürlich mitbekommen, das war eine wirklich gut organisierte Sache. Sehr bemerkenswert, nicht nur die Studenten, sondern die ganze Stadt zu mobilisieren. Die Plakate hängen ja immer noch in den Fenstern. Vor denen, die das organisiert haben, muss man den Hut ziehen – die haben echt was bewegt. Ich weiß noch, wie zwei Studenten bei mir vorbeikamen, die von Haustür zu Haustür gingen. Die haben kein Geld oder Unterschriften gesammelt, sondern haben über die Situation informiert und von der Demo in Kiel erzählt. Da bin ich dann auch dabei gewesen.

StudentenPACK: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben!

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