„Es klingt wie die Ironie des Schicksals, dass man mir Nitroglycerin innerlich verschrieben hat.“ Wonach auch immer es klingen mag – das Kapitel, das mit diesem Auszug aus Alfred Nobels Brief an einen Freund beginnt, in welchem er schildert, dass sein schmerzhaftes Brustenge-Gefühl mit einer als Sprengstoff verwendbaren Substanz therapiert wird, steht in einem Pharmakologie-Buch.

Mit mehr als 3kg ist „Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie“ kein Buch um es zum Lernen mit auf die Wiese zu nehmen.

 Mit mehr als 3kg ist „Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie“ kein Buch um es zum Lernen mit auf die Wiese zu nehmen.[media-credit id=80 align="aligncenter" width="640"]


Genau genommen steht es im von Medizinstudenten gerne nur als „Aktories“ bezeichneten Buch „Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie“, das in der aktuell elften Auflage erschienen ist, herausgegeben von den Herren Aktories, Förstermann, Hofmann und Starke. Doch wie gut ist der auf der Homepage des Elsevier-Verlags als „DAS Lehrbuch für Medizinstudenten“ angepriesene, 1188 Seiten dicke Wälzer auf die Bedürfnisse von ebendiesen abgestimmt?

Beim Aufschlagen des Buches erwartet den Leser zunächst der Hinweis darauf, dass es einen Zugang zur mediscript-Lernwelt enthält und er somit auch online auf Texte und Abbildungen zugreifen sowie sein Pharmakologie-Wissen mit Fragen aus Altexamina prüfen kann. Daneben bietet ein freundlich-buntes, übersichtliches Verzeichnis aller Kapitel die Möglichkeit zur schnellen Navigation.

Die thematische Ordnung im Buch deckt sich nicht immer mit dem Lübecker Curriculum: Für Lifestyle-Drugs wie Viagra und Co. beispielsweise gibt es keine eigene Lerneinheit, sodass diese Wirkungen eher nebenbei Erwähnung finden. Auch die Therapie des Asthma bronchiale wird in einem anderen Kontext, nämlich dem der noradrenergen und adrenergen Systeme behandelt.

Den Kapiteln zu bestimmten Wirkstoffgruppen vorangestellt ist eine umfassende Einführung in die allgemeine Pharmakologie, die die wichtigsten Begriffe definiert und einen Überblick über Dynamik und Kinetik gibt. Dabei ist das Verständnis auch mit Vorklinik-Amnesie leicht möglich, weil selbst grundlegende Prinzipien wie G-Protein-gekoppelte Signaltransduktion noch einmal anschaulich erklärt werden.

Die Definitionen grundlegender Begriffe werden teils leider durch Einschübe unübersichtlicher als nötig: Mit einer knappen Definition und darauffolgenden Erläuterungen und klinischen Beispielen hätte der Leser nach dem ersten Lesen vermutlich eine bessere Vorstellung, worum es geht. Trotzdem lohnt es sich auch nach diesem Einstieg weiterzulesen und vor allem einen Blick auf die Abbildungen zu werfen: Anhand dieser oft halbseitigen und durchgehend farbigen Illustrationen lassen sich Schritt für Schritt die beschriebenen Mechanismen nachvollziehen ohne mit unnötigen Zusatzinformationen zu verwirren.

Nützlich ist auch die Farbcodierung: Unerwünschte Wirkungen eines Pharmakons sind mit einem roten Balken neben dem Text markiert. Das Überspringen von nicht im Lernzielkatalog gefordertem Wissen ist für den faulen Studenten dadurch leicht möglich.

Auch für Unterhaltung und unnützes Wissen zwischendurch ist gesorgt: Da wären die Zitate wie jenes zu Nitroglycerin, die am Anfang vieler Kapitel zum Schmunzeln bringen und neugierig machen. Außerdem findet sich beispielsweise eingestreut zwischen die Strukturformel von Coffein und eine Tabelle zu Pharmakokinetik- und -dynamik von Theophyllin und Coffein eine Tabelle zum Coffeinverbrauch in ausgewählten europäischen Ländern – die Deutschen liegen mit 313 mg Coffein pro Person und Tag zumindest unter den ausgewählten Ländern ganz vorne. Für das Verständnis des Wirkmechanismus ist diese Information nicht notwendig, doch sie sorgt für eine gewisse Auflockerung.

Aber lohnt sich die Neuanschaffung für jemanden, der schon die vorige zehnte Auflage zuhause stehen hat? Meiner Meinung nach nicht. Bei der Überarbeitung zur elften Auflage sind die Kapitel zu den Themen „Pharmakologie des Energiehaushalts“ und „Pharmakologie des Glucosestoffwechsels […]“ zu einem zusammengefasst worden und das Kapitel „Kontrastmittel und Radiopharmaka“ wurde gestrichen. Darüber hinaus ist der Großteil unverändert geblieben.

Im exemplarischen Vergleich der Kapitel zu den zentralen Muskelrelaxantien ergeben sich nur minimale Unterschiede: Abbildungstechnisch ist alles beim Alten geblieben und auch der Einleitungstext sowie die Abschnitte zu Wirkmechanismen und therapeutischer Anwendung sind abgesehen von ein, zwei ergänzenden Sätzen zu einem neuen Wirkstoff identisch. Für die Praxis relevante Änderungen enthält in diesem Kapitel die Tabelle, in der zu den einzelnen Substanzen Informationen wie zum Beispiel zulässige Dosierungen aufgeführt sind. Von einem Studenten kann mit Sicherheit nicht erwartet werden, dass er über derartiges Detailwissen verfügt.

Insgesamt scheint mir „Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie“ ein sehr umfassendes Buch zu sein, das eher für junge Ärzte als Nachschlagewerk eine gute Wahl ist. Für den Medizinstudenten im sechsten Semester bietet es zum Lernen zu viele Informationen. Punktuell kann es allerdings zum besseren Verständnis beitragen und auf jede tiefergehende Frage eine Antwort liefern.

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