Freitagabend auf der Moislinger Allee, zur besten Feierabendverkehrszeit. An einer Ampel kommt der große Pulk Radfahrer in einer mehr oder weniger ordentlichen Zweierreihe allmählich zum stehen, dahinter eine Autoschlange. Eine Linksabbiegerin ruft im Vorbeifahren etwas aus dem Fenster, das wie „Ihr spinnt doch!“ klingt. Offenbar hat sie ein Problem mit Fahrradfahrern auf der Straße und noch nie von der „Critical Mass“ gehört.

Critical Mass: Kreativer Kampf für eine bessere Radverkehrsinfrastruktur

Critical Mass: Kreativer Kampf für eine bessere Radverkehrsinfrastruktur. [media-credit name="Critical Mass Lübeck" align="aligncenter" width="625"]

In der Kernphysik entspricht die „kritische Masse“ der Masse eines spaltbaren Nuklids, die eine sich beim Zerfall selbst aufrechterhaltende Kettenreaktion auslöst. Davon inspiriert sind auch die „Critical Mass“-Radler auf den Straßen unterwegs. Der Straßenverkehrsordnung zufolge liegt ihre kritische Masse bei 16 Personen: „Mehr als 15 Rad Fahrende dürfen einen geschlossenen Verband bilden.“ Fahrten im Verband kennt man sonst eher von Katastrophenschutzübungen des Deutschen Roten Kreuzes, bei denen mit Blaulicht und Sirene über rote Ampelkreuzungen gerast wird. Trotz roter Ampeln weiterfahren darf ein Radfahrerverband allerdings auch – vorausgesetzt, die ersten Radler sind noch bei Grün gefahren. Denn prinzipiell kann man sich einen Verband wie ein zusammenhängendes Fahrzeug vorstellen und ein solches darf schließlich vom übrigen Verkehr auch nicht unterbrochen werden.

Allgemein bekannt ist diese Regelung nicht, sonst würden etliche Autofahrer wohl weniger ungehalten und verständnislos reagieren. Aber: „Wir wollen nicht provozieren“, betont Arno Gerß, der schon länger bei den „Critical Mass“-Aktionen dabei ist. An jedem ersten Freitag des Monats trifft sich die bunt gemischte Radler-Truppe um 19 Uhr am Bismarck-Denkmal beim Lindenteller, um von dort aus zu immer anderen Touren aufzubrechen. Die Route legt immer mal wieder jemand anderes fest – abhängig von spontanen Ideen, Lust und Laune. Selbst bei schlechtem Wetter kommt die Mindestanzahl normalerweise zusammen – dann eben in Regenhosen. Die Beteiligung von studentischer Seite ist dabei erstaunlich gering, wenn man bedenkt, dass die „Critical Mass“-Radler genau das verbindet, was auch unter Studierenden ein Dauerthema ist: Der Unmut über das teils sehr rücksichtlose Verhalten von Autofahrern Radfahrern gegenüber, nur notdürftig ausgebesserte Radwege oder problematische Stellen, an denen ständig Unfälle passieren.

Die „Critical Mass“ möchte aufmerksam machen auf die Bedürfnisse der Fahrradfahrer und ihrem Ärger unter dem Motto „Wir behindern nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr!“ kreativ Luft machen. Auf die Fahnen geschrieben haben sich die Lübecker neben dem Ausbau von Radwegen zudem den Wunsch nach einem kostenfreien Öffentlichen Personennahverkehr und einem anderen Verkehrskonzept für die Innenstadt. „Lübeck wäre für ein Shared Space-Konzept optimal geeignet“, sagt Arno und erklärt kurz, wodurch sich „Shared Space“ auszeichnet: In einem eindeutig eingegrenzten Bereich, wie beispielsweise auf der Altstadtinsel, könnte aus dem unübersichtlichen Schilderwald eine Zone entstehen, in der nur wenige über „Rechts vor Links“ hinausgehende Regelungen gelten. Weiterer Bestandteil des Konzepts ist die Abschaffung von getrennten Straßen, Rad- und Fußwegen zugunsten einer Fläche, auf der sich alle Verkehrsteilnehmer bewegen. Im europäischen Ausland, einzelnen Zonen in deutschen Städten wie Dortmund sowie dem EU-Modellprojekt in der niedersächsischen Gemeinde Bohmte wird das „Shared Space“-Konzept bereits erprobt. Das Resultat ist eine Umfragen zufolge höhere Aufenthaltsqualität in den betreffenden Bereichen bei einer insgesamt unveränderten Verkehrssicherheit. Die Anzahl der Unfälle mit schweren Personenschäden ist durch das insgesamt aufmerksamere Verhalten im Verkehr allerdings deutlich geringer: Meist bleibt es bei leichten Blechschäden.

Unterstützt werden die Radler der „Critical Mass“ vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC). Während viele der Menschen, die bei den „Critical Mass“-Aktionen mitfahren, damit zufrieden sind, bei einer zügigen Radtour durch die Stadt gerade in Problemzonen Präsenz zu zeigen und so für mehr Gleichberechtigung auf der Straße zu kämpfen, stellt der ADFC das politische Sprachrohr für die Wünsche und Bedürfnisse der Radfahrer dar und bringt konkrete Forderungen in die Lübecker Bürgerschaft ein. Aktuelle Themen sind beispielsweise die Erhaltung der Dorfstraße als Fahrradstraße und längerfristig Baumaßnahmen an der Ratzeburger Allee, sodass dort ein breiterer Radweg entstehen kann, der das Überholen erleichtern soll.

Derzeit tut sich im Bezug auf Radfahrerbelange allerdings nicht viel: Hans-Walter Fechtel, der ehemalige Fahrradbeauftragte der Hansestadt, ging im Oktober vergangenen Jahres in den Ruhestand, die Neubesetzung seiner Stelle ist erst zum ersten August dieses Jahres geplant. Dass der fertige Bericht „Fahrradfreundliches Lübeck“ mit Plänen zur Sanierung und Erweiterung der hiesigen Radverkehrsinfrastruktur bis dahin nicht abhanden kommt und auch nach Neubesetzung der Stelle wieder aufgegriffen wird, bleibt zu hoffen. Bis dahin gibt es allerdings eine gute Möglichkeit, auf sich als Radfahrer aufmerksam zu machen: Rausgehen und losfahren! Warum nicht auch mal am ersten Freitag des Monats um 19 Uhr am Lindenteller?

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