Ein Teil des Teams der Lübecker „Blutgrätschen“ mit ihren Pompfen.Annika Munko | StudentenPACK.

Ein Teil des Teams der Lübecker „Blutgrätschen“ mit ihren Pompfen.

Der letzte Stein ist gefallen, das Spiel ist aus. Nach einem langen, für einige sogar wortwörtlichen Ringen verlassen die mit Q-Tips, Ketten und Co. bewaffneten Spieler das Feld, um den Tag mit einem gemeinsamen Grillabend ausklingen zu lassen. Klingt total verrückt? Was für den Außenstehenden mehr als absurd klingt, ereignet sich jetzt im Sommer etwa jedes zweite Wochenende bei einem der in Deutschland gar nicht seltenen Jugger-Turniere. Doch was ist Jugger überhaupt für ein Sport und warum wird die Spielzeit nicht in Minuten, sondern in Steinen gemessen?

Die Antwort darauf gibt der australische Science-Fiction-Film „Die Jugger – Kampf der Besten“. Für diesen 1989 erschienenen und nicht ohne Grund erst ab 18 Jahren freigegebenen Film erfand Drehbuchautor und Regisseur David Webb Peoples eine neue, zur postapokalyptischen Welt, in der sie gespielt wird, passende Sportart: Ein Team besteht aus fünf Spielern, „Jugger“ genannt. Vier von ihnen sind mit verschiedenen Waffen ausgerüstet, mit denen sie das gegnerische Team aufzuhalten versuchen, um dem eigenen, unbewaffneten Läufer Zeit zu verschaffen. Die Läufer sind die einzigen Jugger auf dem Feld, die den als Ball dienenden Hundeschädel berühren, mitnehmen und auf das gegnerische Mal, eine in den Boden gerammte Stange, aufspießen dürfen. Gelingt dies einem der beiden Läufer, ist die Partie vor Ablauf der maximal vorgesehenen Spieldauer – diese entspricht der Zeit, die ein Unbeteiligter braucht, um dreimal 100 Steine gegen ein Blech zu werfen – beendet. Angesichts der Waffen und der aus alten Materialien wie Autoreifen oder Stöcken zusammengesetzten Schutzkleidung sind schwerwiegende Blessuren, obwohl ein Ehrenkodex absichtliche Verletzungen nicht vorsieht, an der Tagesordnung. Zur Härte des Spiels trägt zudem bei, dass es für die Jugger nicht nur um den Sieg, sondern auch um ihren Lebensunterhalt geht: Das Gewinnerteam bekommt Steine, die in der nach einem Atomkrieg verwüsteten Welt voller Armut als Währung fungieren.

„Der Film ist ultra-schlecht“, sagen selbst die aktiven Lübecker Jugger, doch von dieser Verbissenheit ist dem heutigen Jugger glücklicherweise nichts mehr anzumerken: Obwohl eine Jugger-Partie für Passanten noch immer nach einer Schlacht aussieht, ist die Einstellung eine grundlegend andere, im Mittelpunkt steht seit dem ersten belegten Jugger-Match 1993 bei einem Liverollenspiel der Spaß am Spiel. Seitdem hat sich Jugger zu einer offiziell anerkannten Sportart mit einer eigenen Jugger League und mehr als 200 Teams entwickelt, die vor allem in Deutschlands Groß- und Universitätsstädten weiterhin im Kommen ist.

Die Grundzüge des Juggers – vier Spieler versuchen, ihren Läufer zu schützen und ihm so zu ermöglichen, einen Punkt zu erzielen – sind dieselben geblieben, doch etliche Elemente mussten, sei es aus Sicherheitsgründen oder um der Spielbarkeit Willen, angepasst werden. So ist ein Match nicht wie im Film nach einem Punkt beendet und es sitzt auch niemand am Spielfeldrand und wirft Steine gegen eine Metallplatte – stattdessen wird im 1,5-Sekunden-Takt getrommelt, bis zweimal 100 „Steine“ vergangen sind. Außerdem dient als Spielgerät selbstverständlich kein Hundeschädel, sondern ein Rugbyball-großer Schaumstoffball und das Mal ist in Deutschland kein Stab zum Aufspießen, sondern ein weicher, vulkanartiger Kegelstumpf mit Loch, in dem der Ball platziert werden muss. Mit der zunehmenden Organisation des Sports ging zudem eine Standardisierung der mit Rohrisolierung und Panzertape ummantelten Stäbe, der sogenannten Pompfen, einher: Jede Pompfenart, die in Anlehnung an den Film Q-Tip, Stab, Kette, Lang- und Kurzpompfe heißen, muss nach bestimmten Kriterien angefertigt werden. Diese Vorgaben sind gerade deswegen wichtig, weil die Pompfen meist von den Spielern selbst gebaut werden.

Beim Stab ist beispielsweise festgelegt, wo die Griffflächen sind, wie dick die Polsterung zu sein hat und wie er zu benutzen ist: Der Stab muss beidhändig geführt und es darf nicht damit gestochen werden, sonst zählt der Treffer nicht. Gewisse Modifikationen der Pompfen sind allerdings erlaubt. Bei der drei Meter langen Kette, die am Ende einen Schaumstoffkörper trägt, kann der Spieler beim Bau entscheiden, ob er, abhängig allein von Kreativität und handwerklichem Geschick, eine Kugel oder einen beliebigen anderen Körper schwingen möchte.

Wird ein Jugger nun von der Kette oder einer anderen Pompfe getroffen, so kniet er sich hin und wartet eine pompfenabhängige Anzahl Steine beziehungsweise Trommelschläge ab. Erst danach darf er wieder aufstehen und aktiv am Spielgeschehen teilnehmen. Gerade dabei spielt Fairness eine große Rolle: Fällt einem Spieler auf, dass er jemanden getroffen hat, während er nur eine Hand an einer beidhändig zu führenden Pompfe hatte, so sagt er von sich aus Bescheid, dass der Getroffene weiterlaufen darf. Dadurch und wegen der unterschiedlich langen Wartezeiten bei verschiedenen Pompfen gehen ständig Spieler zu Boden oder stehen wieder auf, was Jugger am Anfang unüberschaubar macht.

„3 - 2 - 1 - Jugger“ und los geht‘s: Außenstehende erinnert Jugger wohl am ehesten an Ritterspiele.Annika Munko | StudentenPACK.

„3 – 2 – 1 – Jugger“ und los geht‘s: Außenstehende erinnert Jugger wohl am ehesten an Ritterspiele.

Trotz des gefährlich aussehenden Getümmels auf dem Feld ist Jugger aber ein eher harmloser Teamsport: Die Standard-Verletzung ist der umgeknickte Knöchel, eindeutig keine Folge des Pompfengebrauchs. Sowieso geht es beim Pompfen vielmehr um Technik, Timing und Übersicht als um Kraft, denn letztlich zählt nur die Berührung. Dies macht Jugger zu einer Sportart, bei der tatsächlich „uni size, uni sex“ gilt: Alle platzieren sich im gleichen Ranking. Diese Rangfolge wird im Turniermodus ausgespielt, wodurch die Spieler schnell viele Gleichgesinnte aus ganz Deutschland kennenlernen. Das gibt den Turnieren den Charakter eines Treffens mit alten Freunden, mit denen man eben tagsüber Sport macht – sei es im Duell auf dem Feld oder um sich Techniken abzuschauen in den Pausen dazwischen – und abends gemütlich zusammensitzt, grillt und erzählt.

Selbst wenn beim Turnier zwei scheinbar sehr unterschiedlich starke Teams aufeinandertreffen, ist der Spielausgang nicht vorhersehbar. Mit einem guten Überblick, wann jemand aus der eigenen Mannschaft wieder aufsteht und wie lange die Gegner noch am Boden hocken, kann auch ein Team, das woanders als „alte Herren“ auflaufen würde, relativ entspannt gewinnen.

Von den Lübecker „Blutgrätschen“, die dem Hanseatic Jugger Verein angehören, heißt es deswegen: „Wir können hier jeden gebrauchen!“ Wer also Lust hat, mal wieder etwas ganz Neues auszuprobieren, kann sich entweder direkt mit Christian Beck (0171-4826180) in Verbindung setzen oder sich schon bald für den Hochschulsport-Kurs im Wintersemester anmelden. Und dann dauert‘s nicht mehr lange, bis es das erste Mal heißt: 3 – 2 – 1 – Jugger!

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