Wir schreiben das Jahr 1930. Genauer gesagt den 24. Februar 1930. Es war ein Montag, der die Lübecker Geschichte und sogar die Geschichte ganz Deutschlands nachhaltig verändern sollte – doch auf eine ganz andere Art und Weise als das eigentlich geplant war.

Die Geschichte vom „kleinen Geschwulst“

Es war einmal ein Homo erectus, der lebte vor 500.000 Jahren in der Türkei. Doch dies war kein gewöhnlicher Homo erectus, denn der Ärmste litt an einer Hirnhautentzündung – ausgelöst durch Tuberkulose.

Bis heute ist dies der erste nachgewiesene Fall von Tuberkulose überhaupt. Doch von diesem Einzelfall aus trat die Infektionskrankheit, die durch gerade einmal 2 µm große Bakterien ausgelöst wird, einen beeindruckenden Feldzug durch die verschiedenen Epochen der Geschichte an. Von dem Alten Ägypten, über das dunkle Mittelalter bis hin zur Neuzeit – die Tuberkulose machte vor keiner Kultur, vor keiner Gesellschaftsschicht, vor nichts und niemandem Halt.

Übertragen werden die Tuberkulose auslösenden Mykobakterien durch Tröpfcheninfektion. Dies führt unweigerlich zu dem Grundsatz: Je größer der Ballungsraum, desto größer die Infektionsgefahr. Somit ist es verständlich, dass mit dem rasanten Bevölkerungs- und Städtewachstum die Anzahl der an Tuberkulose erkrankten Menschen besonders im 18. und 19. Jahrhundert stark anstieg. Damalige Möglichkeiten den Patienten zu helfen, gab es quasi keine. Bis zu den Forschungsarbeiten von Robert Koch im Jahr 1882 kannte man noch nicht einmal die Ursache für die Krankheit, die so vielen Menschen in Europa wortwörtlich „den Atem raubte“.

In vielen Fällen löst eine Tuberkulose-Infektion keine Krankheit aus, da die Bakterien einfach nur eingekapselt werden und in dem Körper der infizierten Person ruhen. Daher stammt auch der Name „Tuberkulose“, der übersetzt in etwa „kleines Geschwulst“ bedeutet. Doch ist das Immunsystem erst einmal geschwächt, kann die Krankheit jederzeit ausbrechen. Das Bakterium zerstört die Lunge und teilweise auch andere Organe der Erkrankten. Für eine erfolgreiche Therapie sind Antibiotika unerlässlich, doch diese erlangten erst Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Einzug in die Medizin.

Am Anfang war die Forschung

Was man also brauchte, war eine sichere und erfolgsversprechende Präventivmaßnahme. Eine Impfung musste her. Und so machten sich der französische Arzt Albert Calmette und sein Kollege, der französische Bakteriologe Camille Guérin, im Jahr 1908 gemeinsam an die Arbeit. Geforscht wurde an Mycobacterium bovis, dem Auslöser der Rindertuberkulose. Auf Grund der Ähnlichkeit zu dem humanen Erreger war dies aber kein Problem. Viel eher war die Infektiosität des bovinen Mycobacteriums für den Menschen problematisch. Daher arbeiteten die beiden Franzosen ganze 13 Jahre daran, das Bakterium durch zahlreiche Passagen soweit zu verändern, dass von ihm keine Infektionsgefahr mehr ausging.

Im Jahr 1921 war es dann endlich soweit. Die so genannte BCG-Schutzimpfung kam auf den Markt, wobei der Name – wie könnte es auch anders sein – natürlich auf die beiden stolzen Forscher zurückging. Mit der oralen „Bacille Calmette-Guérin-Schutzimpfung“ wurden bis 1928 schon über 150.000 Kinder geimpft. Ein bis dahin großer Erfolg.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man sich in Deutschland mit der Einführung der BCG-Impfung jedoch noch vornehm zurückgehalten. Erst als es im Jahr 1928 zu einer offiziellen Empfehlung durch den Völkerbund für diese Schutzimpfung kam, zog auch Deutschland in Sachen Tuberkuloseprophylaxe nach. Ernst Altstaedt, Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes, und Georg Deycke, Direktor des Allgemeinen Krankenhauses, setzten sich dafür ein, dass unsere Hansestadt als erste Stadt in ganz Deutschland, die Schluckimpfung gegen Tuberkulose eingesetzt werden würde.

Ein Jahr nachdem die Entscheidung für die BCG-Impfung gefallen war, traf die Impf-Kultur aus Paris ein. Bevor der Impfstoff jedoch einsatzbereit war, mussten die Kulturen noch entsprechend verarbeitet werden. Eine Aufgabe, die die Krankenschwester Anna Schütze damals übernahm.

Am 24. Februar 1930, sieben Monate nach Eintreffen der Kultur aus Paris, war es dann soweit. Die Impfung gegen Tuberkulose wurde in Lübeck offiziell eingeführt. Innerhalb der ersten zwei Monate wurden insgesamt 256 Neugeborenen die neuartige Schluckimpfung verabreicht – ein Großteil aller Neugeborenen in Lübeck zu dieser Zeit. Die Idee dahinter war simpel. Tuberkulose galt auch in Deutschland als gefährliche und verbreitete Krankheit. Gelang es mit der neuen Impfung möglichst viele Menschen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu treffen, könnte so die Verbreitung von Tuberkulose möglichst effektiv verhindert werden. Doch alles kam ganz anders, als gedacht.

Das Unglück nimmt seinen Lauf

Es war der 17. April 1930, als sich zum ersten Mal andeutete, dass bei der BCG-Schutzimpfung irgendetwas ganz fürchterlich falsch gegangen sein könnte. Ein Baby, das zuvor die Impfung erhalten hatte, starb an diesem Tag an Tuberkulose. Es sollte nicht das Einzige bleiben.

In den Folgetagen starben drei weitere Säuglinge. Alle drei hatten vorab die neuartige Impfung erhalten. Alle drei starben an Tuberkulose. Am 26. April sah sich Georg Deycke daher zum Handeln gezwungen. Umgehend stellte er die Impfung von Neugeborenen ein. Doch für 73 weiter Neugeborene kam diese Entscheidung zu spät. Von den insgesamt 256 Impflingen erkrankten ganze 208 an Tuberkulose.

Doch was war geschehen? An der BCG-Kultur selbst konnte es nicht gelegen haben – schließlich belegte eine mehrjährige positive Erfahrung mit dem attenuierten Impfstoff in ganz Europa dessen Ungefährlichkeit für die Impflinge. So verblieb nur eine einzige alternative Erklärung: Es musste zu einer Verunreinigung des Impfstoffes gekommen sein. Und zwar in Lübeck. Genauer gesagt in dem Labor Georg Deyckes, in dem die BCG-Kultur von Anna Schütze zu Impfstoff verarbeitet worden war.

Damals, im Jahr 1929, arbeitete man in Lübeck nicht nur mit der BCG-Kultur, sondern ebenfalls mit infektiösen Tuberkuloseerregern – in demselben Labor. Spezielle Sicherheitsmaßnahmen? Räumliche Trennung der beiden Arbeitsbereiche? Fehlanzeige. Die Gefahr einer möglichen Verunreinigung der Impf-Kultur wurde vollkommen unterschätzt.

Doch wieso kam die Verunreinigung erst so spät ans Licht? Hätten vor der tatsächlichen Einführung des Impfstoffes in Lübeck nicht umfassende Tests durchgeführt werden müssen, die die Unbedenklichkeit der Impfung belegt hätten? Theoretisch schon. Ein Tierversuch wäre in diesem Fall eigentlich ein Muss gewesen. Doch Deycke und Altstaedt, die beiden Verantwortlichen für die Einführung der Schutzimpfung in Lübeck, verzichteten darauf. Sie vertrauten dem Impfstoff. Sie vertrauten ihm sogar so sehr, dass sie auch auf die obligatorische Kontrolluntersuchung nach der Impfung verzichteten. Einzig und allein ein Test, der die Wirksamkeit der Schutzimpfung nachweisen sollte, war geplant – jeweils sechs Monate nach der Impfung.

Der Calmette-Prozess

Jedes große Unglück verlangt nach Menschen, die dafür zur Verantwortung gezogen werden. Das „Lübecker Impfunglück“ stellt da keine Ausnahme dar. So kam es im Oktober 1931 zur Eröffnung des sogenannten Calmette-Prozesses. Verhandelt wurde vor dem Lübecker Landgericht. Auf der Anklagebank saßen niemand Geringeres als Georg Deycke und Ernst Altstaedt. Schließlich war es Deycke, der das Labor zur Herstellung des Impfstoffes zur Verfügung gestellt hatte. Und es war Altsteadt, der auf die Kontrolluntersuchungen der Impflinge verzichtete und sich gemeinsam mit Deycke gegen einen Tierversuch entschieden hatte.

Das Urteil fiel nach 76 Verhandlungstagen. Mit einer Gefängnisstrafe von 24 Monaten für Krankenhaus-Direktor Georg Deycke und 15 Monaten für den Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes, Ernst Altstaedt, endete der Calmette-Prozess. Die Ereignisse aus dem Jahr 1930 gingen als das „Lübecker Impfunglück“ in die Geschichte ein. Doch das Thema der Tuberkulose-Schutzimpfung endete damit noch lange nicht.

In Deutschland vergingen viele Jahre – es war schon nach dem zweiten Weltkrieg – bis die BCG-Impfung schließlich großflächig eingeführt wurde. Doch 1998 war es damit auch schon wieder vorbei. Heutzutage gehört die Präventivmaßnahme gegen Tuberkulose nicht länger zum Standard in Deutschland. Der Grund dafür? Einerseits macht es die geringe Prävalenz von Tuberkulose in Deutschland nicht länger notwendig, alle Säuglinge systematisch gegen Tuberkulose zu impfen. Doch andererseits ist der Impfstoff, wie man jetzt weiß, nur sehr eingeschränkt dazu geeignet, eine Tuberkulose-Erkrankung tatsächlich zu verhindern. Vielmehr bietet die Impfung einen Schutz vor den gefährlichen Nebenwirkungen der Erkrankung – wie zum Beispiel einer Hirnhautentzündung, wie sie unser Homo Erectus hatte. Da die BCG-Impfung jedoch auch heute immer noch gewisse Nebenwirkungen mit sich bringt, wird nun in den meisten Fällen auf eine Impfung verzichtet.

Doch das war nicht die einzige Auswirkung, die man in Deutschland aufgrund des „Lübecker Impfunglücks“ spüren konnte. Von ganz entscheidender Bedeutung war die Katastrophe für das heutige Medizinrecht, in dem unter anderem die Arzthaftung geregelt wird. Weiterhin hatten die Ereignisse 1930 auch Auswirkungen auf die alltägliche Arbeit im Labor. Neue Sicherheitsstandards wurden eingeführt, die eine Wiederholung des „Lübecker Impfunglücks“ unmöglich machen sollen.

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