Gibt es einen besseren Zeitpunkt als Weihnachten, um sich mit Dingen zu befassen, die nichts mit dem eigenen Studienfach zu tun haben? Wahrscheinlich nicht. Und schon das allein war Grund genug, mir über die Feiertage ein Buch über Mathematik zu Gemüte zu führen. Und als ich auf der Rückseite von Alex Bellos’ „Alex im Wunderland der Mathematik“ die Beschreibung las, ging meine Wahl der zugehörigen Literatur auch recht schnell: „Die Schweden lösen Verkehrsprobleme mit Algebra, unser iPod spielt Lieder keineswegs ‚zufällig’ ab und ja: Es gibt eine todsichere Methode, den Lotto-Jackpot zu knacken“. Alles in einem: Unterhaltung, Wissen und Reichtum und das alleine in den Weihnachtsferien.

Also habe ich mich gleich eifrig daran gemacht, mein mathematisches Wissen zu erweitern, und nach einer kurzen Einleitung über den Aufbau des Buches, die unliebliche Wörter wie Arithmetik und Statistik enthielt, ging es auch gleich zum Anfang der Mathematik. Beziehungsweise zur prämathematischen Grundlage, wie Bellos sein nulltes Kapitel bezeichnet. „Nulltes Kapitel“ deswegen, damit der Zahl gehuldigt wird, die die Mathematik, wie wir sie heute kennen, erst ermöglicht hat. In diesem Kapitel gibt Bellos einen Überblick darüber, wie Lebewesen sich Zahlen annähern. Er berichtet von Primaten und Pferden, die zählen können, und von Naturvölkern, die sich ganz gut zu helfen wissen, ohne überhaupt Wörter zu haben, die Zahlen größer als Drei beschreiben.

Es geht weiter durch verschiedene Zahlensysteme. Dabei gab es ganz verschiedene Ansätze in der Geschichte, wie gezählt werden könnte. Ob die 10 als Basis wirklich taugt, wurde mehrfach in Frage gestellt und tatsächlich gibt es auch heute noch Verfechter, die das Duodezimalsystem, also ein Zählsystem mit der Basis 12, vorziehen würden. Verschiedene andere Basen werden auch diskutiert. Doch am Ende siegt wohl der einfache Menschenverstand: Wir haben zehn Finger und zehn Zehen, woran man Dinge doch ganz gut abzählen kann. Also wird es wohl auch dabei bleiben.

Bereits im zweiten Kapitel kommen die ersten großen Namen auf den Tisch: Pythagoras, Euler… Es geht um Geometrie. Diese hat die Menschen von jeher fasziniert. Und das Ergebnis der damaligen Forschung mussten wohl die meisten von uns auch noch in der Schule lernen. Bellos macht dabei auch Ausflüge in Bereiche der Geometrie, wo wir sie vielleicht nicht sofort vermuten würden: Beispielsweise ist die Papierfalttechnik Oregami aus Japan reine Geometrie und auch wer zu Weihnachten Fröbelsterne gebastelt hat, hat sich wohl unbewusst mit haufenweise Mathematik beschäftigt.

Im 3. Kapitel ist sie dann da: die Null! Jetzt geht es los mit der richtigen Rechnerei. Diese stammt – auch wenn es häufig anders berichtet wird – ursprünglich aus Indien, auch wenn sie dort mehr als leere Menge denn als Null im heutigen Sinne angesehen wurde. Dass diese Zahl den Arabern zugeschrieben wird, verdanken diese Fibonacci, der sie von dort mit nach Europa gebracht hat. Im Buch stellt Bellos dabei noch einige Rechnungen vor, wie sie in Indien teilweise noch heute gelehrt werden. Dazu wurden 16 Aphorismen aufgestellt, an die man sich halten musste. Die Rechenbeispiele wirken zwar am Anfang etwas verwirrend, bei genauerer Betrachtung sind sie aber durchaus schlüssig.

Weiter geht es mit der Faszination, die Show-Rechner bis heute auf ihr Publikum ausüben. Seit jeher ist Pi die Zahl, die den größten Zuspruch erfahren hat. Wer ihre Nachkommastellen aufsagen konnte, war ein Held. Dabei war die Länge der Zahl schon beachtlich, noch bevor es Taschenrechner gab. Die längste Herleitung ohne technische Hilfe stammt aus dem Jahr 1946, als es D.F. Fergueson gelang, 620 Nachkommastellen anzunähern. Mit dem Computerzeitalter entstand dann eine neue Form von Wettkampf. Das Ergebnis: Heute kennt man 5 Billionen Nachkommastellen – die, zumindest die ersten, immer noch öffentlich aufgesagt werden. Merken kann man sie sich übrigens mit einschlägigen Gedichten, so genannten Piemen. Und ein Fakt am Rande, der vielleicht die Mediziner begeistern kann: Schon die alten Babylonier haben ihre Kreise mit π = 3 berechnet.

Im 5. Kapitel geht es los mit der Algebra. Hier wird der unscheinbare Buchstabe X eingeführt, den wir heute in unseren Gleichungen haben. Ihn verdanken wir Descartes. Der hatte zwar ursprünglich ein Buch mit sehr vielen anderen Variablen geschrieben, da sein Setzer allerdings nicht ausreichend viele Buchstaben hatte, hat er darum gebeten, das X verwenden zu dürfen, da er das noch so häufig übrig hatte. Seither ist das Lösen von Gleichungen möglich, die eine oder mehrere Unbekannte enthält.

Wie schon die Null gibt es auch andere Beispiele für fälschlich angenommene Ursprünge. So stammt das Sudoku nicht, wie häufig behauptet, aus Japan, sondern eigentlich aus Amerika. Lediglich die Symmetrie, die das „richtige“ Sudoku von anderen Zahlenrätseln unterscheidet, hat ein Japaner eingeführt. Um dieses und ähnliche Zahlenrätsel geht es im 6. Kapitel. Während bis hierhin alles noch etwas abstrakt war, vieles Wiederholung von Schulstoff und viel Mathematikgeschichte, wird hier die Thematik langsam etwas greifbarer. Bellos berichtet auch von der Erfindung von Schiebepuzzeln und Zauberwürfeln und von haarsträubenden Lösungsgeschwindigkeiten bei letzteren. Sei es mit verbundenen Augen, mit den Füßen, mit nur einer Hand oder sogar theoretisch, ohne den Würfel dabei anzufassen: Man kann vor Neid nur erblassen!

Mitknobeln kann man dann im 7. Kapitel. Hierfür hat Bellos einen Sammler von Zahlenfolgen aufgetan, der eine Online-Enzyklopädie ins Leben gerufen hat, auf der er Zahlenfolgen veröffentlicht. Die einfachste ist noch ‚1, 2, 3, 4, …’. Doch im Laufe des Kapitels werden die Folgen immer abstruser. Und so kann man eine ganze Weile über den Seiten sitzen und rechnen und raten, ehe die Verbindung zwischen den Zahlen aufgelöst wird.

Nach einem kleinen Exkurs über Ästhetik in der Mathematik und in der Welt – natürlich: Hier geht es um den Goldenen Schnitt – kommen endlich die relevanten Themen auf den Tisch: Das Glücksspiel. Während hier der historische Rückblick noch einmal interessant ist – in Rom warf man Münzen, um Entscheidungen zu treffen: Wenn Cäsar oben lag, signalisierte das seine Zustimmung – hält das 9. Kapitel lange nicht, was ich mir von ihm versprochen hatte. Dass die Wahrscheinlichkeit beim Münzwerfen 50:50 ist, beim Roulette 1:37 und beim Lotto nur knapp 1:14 Millionen war mir auch schon vor der Lektüre nicht ganz unbekannt. Lediglich wie viel man tatsächlich auf Dauer gesehen statistisch je Runde verliert, war neu. Auch reißt Bellos an, dass es möglich ist, beim Black Jack durch Mitzählen zu gewinnen. Doch auch hier bleibt er sehr vage. Lediglich ein Hinweis ist vielleicht praktisch, ehe man sich ans Zählenüben macht: Heute tauschen Spielbanken viel häufiger die Rouletteräder aus und verdoppeln die Kartensätze beim Black Jack, um den Statistikern unter den Spielern das Leben schwer zu machen.

Um Statistik geht es dann auch im vorletzten Kapitel. Die ersten Statistiken waren Kriminalitätsraten. Und je mehr es davon gab, desto mehr stellte sich heraus, dass fast alles, was mit Bevölkerungen zu tun hat, sich immer unter eine Gauß’sche Glocke setzen lässt.

Anstrengen muss man seine grauen Zellen dann im letzten Kapitel noch einmal. Bellos beginnt mit den Postulaten Euklids und was der über Geraden im Raum aussagte. So weit, so gut. Vom Raum kommt er zu hyperbolen Ebenen, von da zu Einsteins Krümmung von Raum, Zeit und Universum und dann geht es weiter zur Unendlichkeit. Mit letzterer hat sich auch Cantor befasst. Als Beispiel gibt Bellos das Theorem von Hilberts Hotel, ein Hotel mit unendlich vielen Zimmern und ebenso vielen Gästen, Tendenz steigend. Irgendwie haben am Ende alle Gäste ein Bett zum Schlafen. Wie der Hotelchef das geschafft hat, blieb mir aber irgendwie dennoch verborgen. Allerdings war ich nicht überrascht, dass Cantor über seinen Forschungen mehrere Nervenzusammenbrüche erlitten hat und am Ende paranoid und depressiv gestorben ist.

In seiner Reise durch die Mathematik ist es Bellos gelungen, einen Bogen von den ersten einzelnen Zahlen zur Unendlichkeit und von greifbaren Rechnungen zur reinen Abstraktion zu schlagen. Vervollständigt wird das Buch mit einem Glossar mit griffigen Erläuterungen zu einzelnen Begriffen und einem Anhang, in dem – geordnet nach Kapiteln – einzelne Beweise zu Behauptungen ausführlich aufgeführt werden. Für sein Buch ist der britische Autor übrigens wirklich gereist: zu einem amerikanischen Numeriker-Ehepaar, zu einem indischen Mathe-Guru, zu einem japanischen Origami-Falter und und und. Unter den vielen Informationen, die er so gesammelt hat, leidet allerdings mitunter der Schreibstil. Teilweise hat man das Gefühl, eine Reportage zu lesen – was auf Buchlänge durchaus mühsam sein kann. An anderen Stellen hat man den Eindruck, das Drehbuch eines Einspielers aus dem Wissenschaftsfernsehen zu sehen, einschließlich der Interviewgespräche und der Stimme aus dem Off. Im Laufe des Buches wird Alex Bellos, der Mathematik und Philosophie studiert hat, um später als Journalist tätig zu sein, sprachlich besser und leserlicher.

Dabei bin ich mir nicht sicher, wen er mit dem Buch ansprechen will: Freunden der Mathematik dürften die Inhalte der elf Kapitel durchaus geläufig sein, einschließlich der Herleitungen und der zugehörigen Namen. Matheskeptiker könnten hingegen schon in der Einleitung durch sperrige Begriffe und Beispiele abgeschreckt werden. Und wer das Buch, so wie ich, liest, um die Mathematik hinter alltäglichen Dingen zu begreifen, der wird schlichtweg enttäuscht. Denn die auf der Rückseite angepriesenen Themen kommen kaum vor: Die Verkehrsprobleme der Schweden stehen in einem Nebensatz, die zufällige Abfolge von Liedern auf dem iPod werden mit einem Zitat von Steve Jobs abgehandelt und wer sich erhofft hat, mit diesem Buch tatsächlich den Lotto-Jackpott zu knacken, der muss leider weiter spielen, hoffen und bibbern, wie bislang auch.

Wer trotzdem die Rundreise durch die Welt der Mathematik antreten will, dem sei vielleicht geraten, zu warten, bis es das Buch auch im Taschenbuchformat gibt. Die gebundene Version mit rund 480 Seiten kostet derzeit nämlich 24 Euro – die Differenz kann man dann ja in Lottoscheine investieren. Denn wer es häufiger probiert, hat zumindest rein statistisch die höheren Chancen.

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