Je jünger das Semester, desto größer die Pläne. Reisen, das wäre an den Wochenenden doch eine angenehme Abwechslung zum Studienalltag. Kiel, Hamburg oder gar Kopenhagen – die Möglichkeiten scheinen nahezu unbegrenzt zu sein. Und auch der Weg, auf dem wir unsere Ziele erreichen können, scheint geebnet zu sein. Schließlich ziehen sich tausende Kilometer Schienen durch Deutschland und den Rest der Welt. Ganz einfach könnten wir die ganze Welt bereisen. Theoretisch. Wäre da nicht ein kleines Problem – die Bahn selbst.

Haben wir Sommer, so fallen die Klimaanlagen aus. Haben wir dagegen Winter, vereisen die Gleise. Und wenn gerade nichts von alledem für Verspätungen sorgen kann, kommt es mal wieder zu einem Streik der Zugführer, zu Getriebeproblemen an der Lok oder ganz einfach zu einer nicht weiter kommentierten Verspätung um „wenige Minuten“. Irgendwas ist eben immer dafür verantwortlich, dass die Züge nicht so fahren, wie sie es doch eigentlich tun sollten.

Doch selbst wenn man erst einmal seinen Fuß in einen der Züge gesetzt hat, nimmt der Ärger noch lange kein Ende. „Sitzplatzreservierung“ lautet das magische Wort, das normalerweise zivilisierte Menschen neuerdings in egoistische „Platzgeier“ verwandelt.

Ich erwarte ja gar nicht, einen freien Doppelsitz für mich und meinen Rucksack zu ergattern, wenn ich mir schon die 2,50 € für die Reservierung spare. Aus Prinzip, versteht sich. Doch kann ich nicht auch als offensichtlich minderwertiger „nicht-Reservist“ ein gewisses Maß an Respekt und Akzeptanz erwarten? Klar, wenn ein Zug zum Bersten voll ist, dann bleibt manchmal einfach keine Alternative als der Stehplatz vor dem Klo, aber wenn der Zug leer ist, und ich meine wirklich leer, nur etwa fünf Personen in einem Abteil, ist es dann nicht egal, wo man sitzt? Nun, offensichtlich nicht. Eigentlich deutete ja alles darauf hin, dass mir eine durch und durch harmonische Zugfahrt vergönnt war. Der Zug war nur mäßig gefüllt und ich bekam die Möglichkeit, es mir für ganze zwei Stunden auf einem Platz so richtig gemütlich zu machen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass besagter Platz zum Zeitpunkt meiner Eroberung noch nicht reserviert war. Doch ich muss zugeben, es war ein durchaus schöner Platz, den ich da besetzte. In Fahrtrichtung, am Fenster und dann noch an einer Vierer-Sitzgruppe, die ich ganz für mich alleine genießen konnte. Man konnte fast neidisch werden auf mich und mein Plätzchen. Nun, „Mann“ wurde es nicht, „Frau“ dagegen schon.

„Sie sitzen auf meinem Platz.“ Mit einem Gesichtsausdruck, von dem sie selbst vermutlich glaubte, dass er autoritär wirkte, blickte nach zwei friedlichen Stunden plötzlich eine Mittvierzigerin auf mich hinab. Als ich die Dame jedoch nur verständnislos anblickte und keine Anstalten machte mich von der Stelle zu rühren, wurde sie schnell deutlicher. „Ich habe diesen Platz reserviert, auf dem Sie da sitzen. Würden Sie bitte aufstehen.“ Erstaunlicherweise klang es gar nicht so sehr nach einer Bitte, sondern vielmehr nach einem Befehl. An der Tatsache, dass das Abteil mittlerweile jedoch fast so leer gefegt war, wie das Audimax an Heiligabend, änderte das freilich nichts. Konnte die Frau denn nicht sehen, dass ich mich in den vergangenen zwei Stunden schon beinahe häuslich eingerichtet hatte, auf „meinem“ Platz? Wäre nicht irgendeiner der unzähligen anderen freien, nicht reservierten Plätze ebenso gut gewesen wie „meiner“? Scheinbar nicht, denn Gnade schien besagter Frau ganz offensichtlich ein Fremdwort zu sein. Überhaupt gewann ich zunehmend den Eindruck, als ob die Frau mich und meine Argumente gar nicht verstand. So blieb mir am Ende keine andere Alternative, als das Schlachtfeld zu räumen und den unausweichlichen Umzug anzutreten. Wie im Zeitraffer packte ich meine Siebensachen zusammen, erhob mich gemächlich und wechselte mit einem nicht zu überhörenden Seufzer von meinem Fensterplatz in Fahrtrichtung der Vierer-Sitzgruppe auf der rechten Gangseite auf den freien, nicht reservierten Fensterplatz in Fahrtrichtung der leeren Vierer-Sitzgruppe auf der linken Gangseite.

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