Lukas Ruge | StudentenPACK.

Die Sitzblockade bei der Demonastration am 17. November 2009.

Bildung ist nicht erst seit Humboldt, der als das Ziel von Bildung nicht das Anhäufen von Wissen, sondern die Ausbildung und die Vervollkommnung der Persönlichkeit verstand, ein stetiger Diskussionspunkt in der Politik dieses Landes gewesen. Wenn also heute über den Bildungsstreik, der nicht nur heutige Schüler und Studenten, sondern vielmehr auch die nachfolgenden Generationen betrifft, diskutiert wird, ist es notwendig, sich mit dem Begriff Bildung auseinander zu setzen, um Hintergründe und Forderungen der Streikenden zu verstehen.

Im Allgemeinen wird der Begriff Bildung durch unsere eigenen Erfahrungen in der Schullaufbahn geprägt: Ein mit der Klassengröße überforderter Lehrer bemüht sich, die durch den Lehrplan diktierten Inhalte den Schülern möglichst rechtzeitig zur nächsten Klassenarbeit einzutrichtern. Was bleibt, ist die Erinnerung an Lernen unter Druck und die kurze Verweildauer des Stoffes. Bildung sollte mehr sein als das. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki hat dazu schon in den sechziger Jahren entsprechende Vorgaben gemacht. Aus Klafkis Sicht zielt Bildung auf die Vermittlung und den Erwerb von drei grundlegenden Zielen ab: Selbstbestimmung, Mitbestimmungsfähigkeit sowie Solidaritätsfähigkeit. Darüber hinaus werden auch die Fähigkeit zu Empathie, Kritik, Argumentation und vernetztem Denken, zu dem auch das Erkennen von komplexen Strukturen in einem politischen Gefüge zählt, als elementare Bestandteile der Bildung gefordert.

Eben diese Zusammenhänge in unserem politischen System gilt es in der Bildungsdiskussion zu erkennen und öffentlich zu erörtern. Nur so lässt sich eine Veränderung im System erwirken. Dass das deutsche Bildungssystem reformbedürftig ist, ist nicht erst seit der PISA-Studie bekannt. Hauptkritikpunkte sind neben der fehlenden Chancengleichheit, die Zugangsbeschränkung zu Bildungsinstitutionen durch Gebühren sowie die Einflussnahme der Wirtschaft auf Lerninhalte und das Bildungssystem als Gesamtkonstrukt.

Die Bildungsbenachteiligung der Kinder aus so genannten bildungsfernen Schichten beginnt schon im Kindergarten. Aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln der Eltern besuchen nur 64% der Kinder dieser Familien in Deutschland eine oft kostenpflichtige Kita. Die fehlende frühkindliche, institutionelle Bildung setzt sich im Übergang in die Grundschule fort. Kinder aus sozial stärkeren Familien, von denen rund 80% die Kita besucht haben, besitzen schon hier einen Lernvorsprung von durchschnittlich einem Jahr. Aufgrund fehlender individueller schulischer Förderung kann dieser nicht aufgeholt werden. Laut IGLU-Studie erhalten Kinder mit sozial schwacher Herkunft bei gleicher Kompetenz sehr viel seltener eine gymnasiale Empfehlung. Daraus resultiert, dass sich die Schüler ungleich auf die Schulformen verteilen. Da Kinder aller Schichten mit einem vergleichbaren Potential geboren werden, wird deutlich, dass unser Bildungssystem bereits ab Klasse 5 des Gymnasiums, in der nur knapp 5% der Kinder aus der untersten Schicht aufgenommen werden, versagt. Gelingt einem dieser Kinder ein Abitur mit einer Note zwischen eins und zwei, wird es mit einer 50% Wahrscheinlichkeit dennoch eine Berufsausbildung anfangen. Grund hierfür ist unter anderem der wirtschaftliche Einfluss auf das Bildungssystem. Im internationalen Vergleich gibt Deutschland mit 4,3% des BIP (Bruttoinlandsprodukt) deutlich weniger als den Durchschnitt (5,1%) der OECD-Staaten (Organisation von 30 Staaten zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung) für Bildung aus. Allein die Abhängigkeit der Bildungsausgaben der Länder vom BIP zeigt die wirtschaftliche Abhängigkeit. Dieses Defizit wird teilweise durch private Bildungsausgaben der Wirtschaft aufgefangen. Sie fördern als Relikt der Industriegesellschaft die Ausbildungsberufe. Während sich der Student durch Hoffnung auf späteres Vermögen in ein finanzielles Risiko begibt, bietet die Ausbildung Schulabgängern schnelle finanzielle Unabhängigkeit und Sicherheit. Dass Schulabgänger ohne liquide Eltern den Schritt zum Studium oft nicht wagen, ist daher mehr als verständlich.

Auch wenn uns Studiengebühren in Lübeck nicht direkt betreffen, so werden doch auch hier die wirtschaftlichen Einflüsse mehr als deutlich. Manchmal könnte man den Eindruck gewinnen, dass wirtschaftliche Interessen und nicht unsere Bildung im Vordergrund stehen. Der Uni fehlt Geld und aus Angst vor der Auflösung soll sie nun umstrukturiert werden. Trotz ein paar schöner Nebeneffekte, wie eine Verbesserung der Stellung gegenüber der Uni Kiel, weiß niemand so genau, was für Risiken diese Umstrukturierung mit sich bringt. Auch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz der neuen Bundesregierung bringt etliche Schwierigkeiten mit sich. So werden dem Bundesland Schleswig-Holstein 70 Millionen Euro durch fehlende Steuereinnahmen verloren gehen. Hinzu kommt noch, dass niemand sagen kann, wie viel Geld die HSH Nordbank im neuen Jahr weiter verschlingen wird. Wenn man all diese Fakten berücksichtigt, kann niemand mit Sicherheit sagen, ob wir nicht vielleicht doch noch Geld in Form von Studiengebühren bezahlen müssen, um unsere Uni zu erhalten.

Doch es geht nicht um die Situation einzelner, nicht um die Ungerechtigkeit, die direkt an jenen verübt wird, die sich des einzig zur Verfügung stehenden legitimen Mittels, des Streiks, bedienen. Es geht um die Solidarität mit all jenen, die trotz ihres Potentials aufgrund der Hindernisse unseres Systems nicht die Bildung „genießen durften“, die wir, die es sich leisten konnten, deren Eltern es sich leisten können, erhalten haben. Das Glück, in der „richtigen“ sozialen Schicht aufgewachsen zu sein und/oder auf Menschen getroffen zu sein, die uns als Persönlichkeit erkannt und gefördert haben, dieses Glück verpflichtet uns, dass wir es uns nun leisten müssen solidarisch zu sein mit all jenen, die dieses Glück nicht haben oder hatten. Genau für diese, vom System benachteiligten Menschen tritt der Bildungsstreik ein. Es geht nicht nur um die heutige, sondern auch um alle nachfolgenden Generationen, die von unserem Bildungssystem profitieren sollen. Egal ob Kinder, Schüler oder Studenten: Wir müssen ihnen die Hand reichen. Auch der Bundespräsident Köhler sagte in diesem Zusammenhang, dass die fehlende Chancengleichheit eine „unentschuldbare Ungerechtigkeit“ sei. Wir sehen es als unsere Pflicht an, diese Ungerechtigkeit nicht zu akzeptieren. So kämpfen wir für die, die heute betroffen sind, für ein besseres Morgen. Auf dass es mehr von uns gäbe. Es bietet sich eine einmalige Chance für einen echten Fortschritt. Wir können es uns als Wissensgesellschaft nicht leisten, in einem Land, in dem immer weniger Kinder geboren werden, in dem die sozialen Herausforderungen immer größer werden, in diesem Umfang zu selektieren und das Potential so vieler Kinder, zukünftiger Säulen unserer Gesellschaft, zu verschenken.

Wir können uns das nicht leisten!

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