Mit Standing Ovations wurde Professor Solbach nach seiner letzten Vorlesung offiziell verabschiedet.René Kube

Mit Standing Ovations wurde Professor Solbach nach seiner letzten Vorlesung offiziell verabschiedet.

Liebe Studierende,

Zunächst einmal danke ich Ihnen für die vielen freundlichen Worte und das genussvolle Abschiedsgeschenk anlässlieh unserer letzten „Vorlesung“ am vergangenen Freitag. Ich war erfreut und bewegt.

Für die jetzt anstehenden Prüfungen wünsche ich Ihnen viel Erfolg.

Im Sommersemester 1997 habe ich Ihren Vorgängern in Lübeck zum ersten Mal die „MiBi“, oder, wie es offiziell heißt, die „Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene“ näher gebracht.

41 Semester später und um Erfahrungen mit rund 4.000 Studierenden reicher ist das zu Ende gehende Sommersemester 2017 mein letztes gewesen. Das ist ein guter Zeitpunkt für Dank, Rückblick und Ausblick.

Zu allererst: Ich habe jede Vorlesung und jeden MiBi-Kurs genossen, sicher im Gegensatz zu manchen von Ihnen. Es hat mir immer Freude gemacht, mit Ihnen das Wesen der Infektionskrankheiten zu erarbeiten und zu diskutieren. Besonders lag es mir am Herzen, diejenigen, die mit dem Fach nichts „am Hut“ hatten, zu „entzünden“. Ich denke, es war nicht ganz umsonst.

Gelegentlich, etwa im Intercity nach Berlin, begrüßen mich Damen oder Herren – inzwischen gestandene Fachärzte und Fachärztinnen – wie alte Bekannte. Sie hätten doch bei mir MiBi gelernt. Das sei interessant gewesen. Das freut mich ungemein. Gleichermaßen bin ich beschämt, wenn ich die Namen nicht gleich parat habe.

Die Medizin hat sich in den letzten 20 Jahren rasant verändert. Es gibt die Meinung, dass sich das medizinische Wissen im Jahr 2010 alle 73 Tage verdoppelt. Die wissenschaftliche Basis der Prognose ist mir unbekannt, soll aber die rasche Dynamik der Veränderungen quantifizieren.

Bei aller Veränderung, eines ist über all die Jahre gleich geblieben: Ihre Freude am Lernen (naja, nicht immer). Ihr Interesse, die neuesten Entwicklungen in der Forschung zu hören und darüber wissenschaftlich zu diskutieren.

Auch die Methoden der Wissensvermittlung haben sich verändert. Wissen Sie noch, was ein Dia ist? Bis zur Jahrtausendwende – die meisten von Ihnen waren im Kindergarten oder in der Grundschule – war die Diasammlung der Schatz eines jeden Dozenten. Sie wurden aufwändig hergestellt (Fotografien – Film entwickeln – Dia vom Film ausschneiden – rahmen – beschriften – einsortieren – wiederfinden) und mussten einige Semester halten. Dementsprechend waren sie auch schnell veraltet.

Dann kam PowerPoint – seitdem der Herrscher der Hörsäle. Es gab keinen Grund mehr, veraltete Folien – wie das Dia jetzt hieß – zu beamen. Der Dozent konnte beeindrucken mit bunten Bildern und vielen Texten. Er wollte ja aktuell sein. PowerPoint machts ja möglich, bis zehn Minuten vor der Vorlesung noch schnell und immer mehr Stoff in die Vorlesung zu packen. Ich gestehe, dass auch ich – von der Technik angetan – am Anfang Gefahr lief, die Studenten zuzutexten. Später habe ich mich dann bemüht, zumindest manchmal in die „Kreide“-Zeit an der Tafel zurückzukehren.

Einige Zeit später wurde die Welt smart vernetzt. Schnell noch ein Bild aus dem Netz einfügen – kein Problem. Die Folien werden vor der Vorlesung online gestellt, damit Sie – wie ich höre – sich besser vorbereiten und den Stoff nachbereiten können. Ich freue mich natürlich wenn ich mir vorstelle, dass Sie sich beim morgendlichen Müsli mit PowerPoint-MiBi beschäftigen. Auf der anderen Seite: alles hat seine Zeit…

Neben den Folien gibt es ja noch Dr. Google, Wikipedia, Dr. House und Co. als Quellen der Information. Jede für sich ist gar nicht schlecht. Allen gemeinsam aber ist, sie sind voller Fakten, manchmal widersprüchlich, können aber kein Verständnis für Zusammenhänge herstellen.

Ich habe mich deshalb immer bemüht, die Fakten zu einem Ganzen zusammenzubringen, sozusagen vom Wissen zur Erkenntnis zu kommen. Das geht manchmal am besten, wenn man Geschichten erzählt, wie es beispielsweise Thomas Mann über das Wesen des Typhus in den Buddenbrooks oder der Syphilis im Doktor Faustus meisterhaft vormacht. Dafür wurde ich früher gelobt. Seit einigen Jahren bekomme ich dafür Punktabzug in der Evaluation. Die Geschichten seien nicht prüfungsrelevant und daher vertane Zeit. Mit dem Argument umzugehen, habe ich bis heute nicht wirklich geschafft.

Um Zusammenhänge zu verstehen, brauche ich Wissen um die Fakten. Das nennt man Lernen. Dazu bedarf es der Konzentration, das ist mühsam, macht fast immer einsam und geht nur ohne die allzu verführerischen Ablenkungen durch die technischen Orthesen. „Ich schau mal schnell im Netz nach“ – und schon ist wieder eine Stunde im Dickicht der ja so vielen interessanten Links vergangen. Gelernt habe ich nichts. Big Data ist kein Ersatz für das Verstehen von Zusammenhängen. Das Wissen um das Wie und Warum der Zusammenhänge ist entscheidend.

Hier ein kleiner Denkanstoß von einem früheren Kinderarzt: „Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit unklarer Diagnose in die Notaufnahme. Es geht Ihnen schlecht. Der Chefarzt kommt und erläutert Ihnen, er habe 30 Jahre Erfahrung – er werde schon herausfinden, was mit Ihnen nicht stimmt. Daneben sitzt der Assistenzarzt, erstes Ausbildungsjahr. Der sagt, er habe einen Computer mit dem Wissen von 600 Chefarztjahren.“ Wem würden Sie sich anvertrauen? Ich denke, die Mischung zwischen Eminenz und Evidenz ist das Beste.

Lange Zeit der Arbeitsplatz von Prof. Solbach: Das Transitorium.Magnus Bender | StudentenPACK.

Lange Zeit der Arbeitsplatz von Prof. Solbach: Das Transitorium.

Damit Sie später ganz unterschiedliche Rollen als Arzt, Gesundheitsberater, medizinischer Experte, Manager, manchmal auch als Schauspieler, gut ausfüllen können, müssen Sie die Sprache der Erkenntnis gut beherrschen. Das kann man am besten in einem Vier-Augen-Gespräch überprüfen.

Ich weiß, die MiBi-Prüfung ist gefürchtet. Ja, es ist schwieriger, im persönlichen Gespräch einen Sachverhalt aktiv zu entwickeln als einen vorgeschlagenen Text durch Ankreuzen auf Richtigkeit zu prüfen. Der große Vorteil ist, dass im Gespräch die Möglichkeit zur „zweiten Chance“ besteht. Meine Erfahrung ist, dass man fast immer durch Öffnen einer anderen Lern-„Schublade“ die Zusammenhänge erarbeiten kann und zum Ziel (dem Schein) kommt. Natürlich müssen die Schubladen zumindest ein bisschen gefüllt sein.

Prüfungsrelevanz, Lerneffizienz, Prozessoptimierung, Ergebnisqualität, Leitlinienadhärenz, Kompetenzkompetenz, role models (?), das sind alles Schlagworte, die dem jeweiligen Zeitgeist folgen und modern klingen. Medizin 4.0 mit ungeahnten telemedizinischen Möglichkeiten wird das ärztliche Handeln in Zukunft ziemlich stark verändern. Schon jetzt gibt es die Auskultation per smartphone, das Gesamtgenom für tausend Euro, multiplex-PCR für die Diagnostik aller bekannten respiratorischen Infektionen, das Metagenom aus einem Tropfen Blut. Das alles ist toll und hilft bei der immer besseren Diagnostik und Therapie. Aber am Ende sind das alles nur Handwerkszeuge. Handwerkszeuge auf Ihrem Weg, mit profundem Wissen die „Kunst des Heilens“ täglich zu vervollkommnen.

Besinnen Sie sich darauf, warum Sie eigentlich Arzt oder Ärztin werden wollen. Es ist Ihre Berufung, kranken Menschen in ihrer Not und ihrem Leid zu helfen, gesund zu werden. Im Focus das Leben.

Nutzen Sie Ihr Studium, um zu lernen, sich dem Patienten in seiner ganz individuellen Einheit von Körper, Geist und Seele zuzuwenden. Individuelle Medizin, Personalisierte Medizin, Präzisionsmedizin oder personalisierte Präzisionmedizin, das sind die Schlagwörter zur Zukunft der Medizin. Wenn damit „Persönliche Medizin“ gemeint ist, ist es gut, ansonsten ist es Hype.

Nutzen Sie die Zeit des Studiums auch als Zeit der Freiheit. Nie mehr werden Sie so viele Möglichkeiten haben, Dinge auszuprobieren oder auch Dinge zu machen, von denen Sie wissen, dass Sie sie später nie gebrauchen werden. Wenn Sie erst einmal im Beruf sind, sind solche Möglichkeiten für eine lange Zeit eingeschränkt.

Ich verabschiede mich von Ihnen, ja mit einem Tropfen Wehmut. Ich werde die vielen fachlichen, aber auch ganz persönlichen Gespräche mit Ihnen vermissen.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihr weiteres Studium und im Beruf viel „Heilkraft“. Bleiben Sie „entzündet“.

Vielleicht sieht man sich ja mal, vielleicht im Intercity.

Alles Gute

Werner Solbach

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