Abbildung Aus "Die Gartenlaube" von 1872Die Gartenlaube

Abbildung Aus “Die Gartenlaube” von 1872

“In Booten eilte man herbei, die so schwer Bedrohten in Sicherheit zu bringen; auf den Armen kräftiger, muthiger Männer wurden die Frauen und Kinder aus den unter Wasser gesetzten Häusern gerettet, was in nicht seltenen Fällen nur mit eigener höchster Lebensgefahr geschehen konnte.” (“Illustrierte Zeitung”, 14. Dezember 1872)

Im September 2017 sorgte der Monsun in Indien, Nepal und Bangladesch für Überflutungen, die über 1000 Menschen das Leben kosteten. In den USA ging die Stadt Houston nach tagelangem Regen ebenfalls unter. Extremsituationen werden wegen des Klimawandels häufiger werden, warnen Experten und so mag, was heute als eine Jahrtausendflut gilt schon bald nicht mehr als so außergewöhnlich gelten. Grund genug, die stärkste Flut in der Geschichte der Ostsee zu betrachten. Ein stark verspäteter Newsticker:

10. November 1872

In den ersten Novemberwochen des Jahres 1872 war es stürmisch, der Wind kam seit dem ersten November aus Südwest. So stark war der Sturm, dass das Wasser der Ostsee Richtung Finnland verlagert wurde und an der Küste der Ostsee ein extremes Niedrigwasser herrschte, während man in Finnland und an der Baltikumküste mit Hochwasser zu kämpfen hatte. Ausgeglichen wurde das Niedrigwasser zu Teilen durch Nordseewasser, welches den Freiraum nutze und in die Ostsee floss. Insgesamt erhöhte sich dadurch die Wassermenge in der Ostsee.

Sturmtief Xaver sorgte im Dezmber 2014 für Niedrigwasser der Trave. In der darauffolgenden Nacht wurde es windstill und das Ostseewasser schwappte zurück, überflutete dabei auch die Straßen an der Obertrave.StudentenPACK

Sturmtief Xaver sorgte im Dezmber 2014 für Niedrigwasser der Trave.

Wie eine Forschungsarbeit der Uni Siegen für den Deutschen Wetterdienst (DWD) 2008 rekonstruiert hat, ändert sich am 10. November die Wettersituation. Ein atlantisches Tief zog auf südostlicher Bahn Richtung Mitteleuropa. In Skandinavien stieg der Luftdruck und Orkanwinde, diesmal aus dem Osten kommend, trieben das Wasser nun in die Gegenrichtung, das eingeflossene Nordseewasser allerdings konnte nicht schnell genug abfließen.

12. November 1872

“Bei Lübeck schwoll die sonst ruhig dahinfließende Trave schon am 12. so an, dass die Wellen das Bollwerk überfluteten, noch in der darauffolgenden Nacht überschwemmte das Wasser die zum Fluss hinabführenden Straßen” meldete die Illustrierte Zeitung. In Küstenorten flüchteten bereits Menschen aus ihren Häusern. Im “Fehmarn Echo” erzählte Hans Timm eine Geschichte, die ihm sein Vater erzählte, dessen Großvater wenige Tage vor der Sturmflut gestorben war: “Als die Dorfbewohner ihre Häuser fluchtartig verlassen mussten, ließen sie die Leiche zurück. Einige Habseligkeiten und Lebensmittel wurden aufgeladen, das schlachtreife Schwein wurde geschlachtet und mitgenommen. Das Federvieh auf den Boden gebracht und mit Futter versorgt. Die Kühe und die Schafe vorweggetrieben.”

Im Januar 2017 stieg das Wasser auf 1,2 m über Normal.Lukas Ruge | StudentenPACK.

Die Sturmflut von 2017. Auf nur 1,2 Meter stieg das Wasser an und führte an der Trave bereits zu Feuerwehreinsätzen und überfluteten Kellern

Die Illustrierte Zeitung: “Noch in der darauffolgenden Nacht überschwemmte das Wasser die zum Fluß hinabführenden Straßen und stieg am 13. höher und höher. Das ganze Flußbett vom Eingang des Hafens bis zur Holstenbrücke war mit schwimmenden Fässern, Ballen, Waaren aller Art bedeckt.” Das Wasser stieg weiter, gegen Mittag des 13. Novembers kam es zum Höchststand von 3,3 m (Andere Quellen sprechen von 2,9 oder sogar 3,5 Metern) über Normal Null.

Innerhalb des Abends ließ der Sturm nach und noch in der Nacht verschwand auch das Hochwasser. An der südwestlichen Ostseeküste starben mindestens 271 Menschen, mindestens 15.000 Bewohner wurden obdachlos, zehntausende Tiere ertranken. “Traurig sieht es in dem kleinen Ostseebad Niendorf aus. […] Zwölf Wohnhäuser des Dorfs sind völlig vom Erdboden verschwunden, nicht ein Pfahl, nicht ein Ziegelstein kennzeichnet mehr ihren Standort. […] Die von der Sturmflut an den Küsten […] an angerichteten Verwüstungen sind ungeheuer.” Auf Rügen wurde der als Hiddenseer Goldschmuck bekannte Wikingerschatz freigespült.

Flutschutz heute

Erst mit dieser Sturmflut beginnt an der Ostseeküste ein systematischer und verpflichtender Schutz gegen Hochwasser überhaupt zu existieren. Vor Pegelständen wie 1872 ist die Ostseeküste allerdings auch heute nicht geschützt. Als 2016 das Wasser auf der Trave auf 1,2 Meter über Normalnull stieg, standen Obertrave, Lachswehr und andere Teile der Stadt unter Wasser. Eine Flut von 3 Metern würden das Erdgeschoss zahlreicher Häuser bis zur Decke unter Wasser setzen. Der wirtschaftliche Schaden wäre, aufgrund viel engerer Bebauung, viel höher als vor 145 Jahren. Allerdings gibt es deutlich bessere Frühwarnsysteme, der “Warndienst”, der 1872 die Anwohner hätte warnen sollen, versagte. Die zuständigen Männer warnten die Bevölkerung nicht, sondern “liefen in ihre Wohnungen, nur um Rettung ihres Eigenthums besorgt”, schrieb die Leipziger Illustrierte.

2008 ließ der DWD das Ostseesturmhochwasser wissenschaftlich untersuchen, um herauszufinden, wie eine Flut entstehen konnte, die fast doppelt so hoch war, wie die zweithöchste. Wetterdaten über Luftdruck und Meeresspiegel aus dem Jahre 1872 aus ganz Europa wurden eingeholt und ein Computermodel erstellt, welches die heute bekannten Wetterbedingungen präzise simulieren konnte. Die Ergebnisse der Simulation stimmen mit den zeitgenössischen Meldungen überein. Die Simulation zeigt aber auch, welche unwahrscheinliche Kombination von Wetterlagen notwendig war, um eine derartige Sturmflut zu begünstigen.

Mit dem Klimawandel ist weltweit mit einem Anstieg des Meeresspiegels zu rechnen, gleichzeitig werden extreme Wettersituationen häufiger. Aufgrund dieser Lage wurde in Eckernförde 2015 beraten, wie man die Stadt auch vor extremen Fluten sichern könnte. Die TU Hamburg/Harburg bezifferte die Kosten für notwendige Schutzmauern auf 8,8 Millionen Euro und kam zu dem Fazit, es sei für Eckernförde billiger, die Schäden einer Jahrtausendflut, so sie denn eintritt, zu reparieren, als die Schutzmaßnahmen umzusetzen. Denen, die in potentiell von Flut betroffenen Gebieten wohnen, kann also nur geraten sein, sich gut zu versichern.

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