Bundesweite Proteste, Studenten-Streiks, Ordnungsverfahren – all das sieht man heutzutage auf dem Lübecker Campus nicht mehr. Aber das war mal anders: Die siebziger Jahre waren auch auf dem noch jungen Lübecker Campus eine allgemein- wie hochschulpolitisch lebhafte Zeit. Es ist die Zeit, in der Sebastian Stierl an der Medizinischen Hochschule Lübeck sein Studium absolviert. Zum Sommersemester 1976 wechselt er von Marburg hierher, weil er sich einen persönlicheren Kontakt mit den Lehrenden und mehr Zusammenhalt unter den Studenten wünscht. „Die Medizinische Hochschule Lübeck war gefühlt eher eine Dorfschule gegenüber der Lernfabrik in Marburg. Schließlich fand ich die alte Stadt und das nahe Meer reizvoll“, erläutert er seine Wahl. Der MHL bleibt er bis zum Abschluss seiner Promotion 1982 erhalten.

Sebastian Stierl (sitzend, 3. von rechts) war 1978 Vorsitzender des AStA.Sebastian Stier

Sebastian Stierl (sitzend, 3. von rechts) war 1978 Vorsitzender des AStA.

Die Frage, sich hochschulpolitisch zu engagieren, stellte sich für Sebastian Stierl gar nicht erst: „Für mich war es die Fortsetzung einer schon als Schüler politisch engagierten Haltung. Ein prägendes Erlebnis waren die Aktionen gegen BILD und den Springer-Verlag nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke Ostern 1968, an denen ich als 16-jähriger Schüler in Essen teilgenommen habe. Bis heute bin ich davon überzeugt, dass dieses Land die Katastrophe des Nationalsozialismus nicht verstanden hat. Die notwendigen Konsequenzen wurden unter dem Wiedererstarken des Kapitals erstickt, statt Bildung und Gerechtigkeit haben sich das Recht des Stärkeren und ein Raubbau an den Ressourcen ausgebreitet.“

Im Sommer 1977 führt er als AStA-Vorsitzender einen etwa 50 Studenten umfassenden Streik im Rahmen der bundesweiten Proteste gegen die Einführung des Praktischen Jahres als „Beschaffungsmaßnahme billiger Arbeitskräfte“ an, was für ihn nicht ohne Konsequenzen bleibt: Er wird als Rädelsführer ausgemacht und gegen ihn wird, um ein Exempel zu statuieren, das erste Ordnungsverfahren der Hochschule eingeleitet. Er berichtet: „In der auf Harmonie getrimmten Atmosphäre der MHL war der erstaunlich geschlossene Protest der Studenten eine Ungeheuerlichkeit. Dabei wurde ich vom Ordinarius der Orthopädie und Reserveoffizier Professor Henßge als Rädelsführer ausgemacht. Er veranlasste die Einleitung eines Ordnungsverfahrens, das immerhin die Relegation (Anm. d. Red.: Ausschluss vom Hochschulstudium) als stärkste Sanktion vorsah. Die Disziplinierungsaktion nach außen wurde parallel mit einem Stellenangebot nach dem Studium in seiner Orthopädischen Klinik verbunden(!). Letztlich ging es um Spaltung. Erreicht hat er damit das Gegenteil: als ihrem AStA-Vorsitzenden haben sich die Kommilitoninnen und Kommilitonen demonstrativ hinter mich gestellt. Letztlich musste ich das Ordnungsverfahren aber durch zwei Instanzen gegen die MHL juristisch ‚niederringen‘. Insgesamt eine aufregende Zeit, die mich besonders die Bedeutung von Solidarität gelehrt hat. Dabei war die Hochschulleitung keinesfalls ein geschlossener Block. Das Angebot einer Doktorarbeit durch Professor Horst Dilling war zum Beispiel eine demonstrative Sympathiebekundung.“

Es passt in eine Zeit, in der es auf dem Lübecker Campus sehr viel politischer als heute zuging. „Tatsächlich war die Zeit damals für Lübecker Verhältnisse recht lebhaft. Im Vergleich zu den wochenlangen Besetzungen des AStA-Büros an der Uni Marburg mit Polizeieinsätzen und großen Demonstrationen wirkte die MHL allerdings geradezu idyllisch. Aber immerhin: Ein neues Hochschulrahmengesetz wurde verabschiedet, das wir als massiven Angriff auf die Verfasste Studentenschaft mit ihren Organen Vollversammlung und Urabstimmung verstanden haben. Und immer wieder ging es um das ‚Politische Mandat‘ also die Möglichkeit, aus der Studentenschaft heraus auch allgemeinpolitische Stellungnahmen abzugeben, zum Beispiel zur Kernenergie oder zum Einfluss der Industrie auf die Wissenschaft durch die anwachsende Drittmittelforschung. […] Tatsächlich haben wir uns intensiv mit solchen hochschulpolitischen Fragen beschäftigt, endlose Debatten in den verschiedenen Gremien geführt und Wandzeitungen und Flugblätter verfasst. Das Ganze hat aber auch deshalb erstaunliche Kräfte freigesetzt, weil es in der Verbindung von Politik und Studium auch noch eine Kultur des Zusammenhalts gab, die sich zum Beispiel in tollen AStA-Feten ausdrückte.“

Sebastian Stierl sieht darin auch einen nachhaltigen Effekt: „Rückblickend habe ich schon den Eindruck, dass in der damaligen Ärztegeneration ein kritischeres Bewusstsein von der eigenen gesellschaftlichen Rolle entstanden ist. Bei dem einen oder anderen mag es dazu beigetragen haben, dass er sich später beruflich stärker politisch engagiert hat und die Verbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen und Gesundheit etwas tiefgehender durchdrungen hat.“

Heute ist er ärztlicher Direktor der psychiatrischen Klinik Lüneburg.Sebastian Stierl | StudentenPACK.

Heute ist er ärztlicher Direktor der psychiatrischen Klinik Lüneburg.

Zu dieser nicht nur hochschulpolitisch brisanten Zeit bedeutete ein Studium in Lübeck gleichzeitig auch ein Studium an der innerdeutschen Grenze. Die DDR habe im alltäglichen Leben keine besondere Rolle gespielt, berichtet Stierl. Dennoch: „Beim Segeln auf dem Ratzeburger See waren einige Uferabschnitte tunlichst zu meiden! Der große Informationsmangel über die konkreten Lebensbedingungen in der DDR hat uns als Medizinstudenten besonders neugierig gemacht. Mit einigen Kommilitonen aus Lübeck und Kiel habe ich an einer mehrtägigen Exkursion des MSB-Spartakus (Anm. d. Red.: Marxistischer Studentenbund Spartakus) nach Neubrandenburg teilgenommen, bei der wir medizinische Einrichtungen besichtigten. Die größte Angst hatten wir damals bei der Rückkehr vor einem möglichen Berufsverbot in der BRD!“

Heute ist Sebastian Stierl Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik Lüneburg. Ab und zu kann man ihn aber noch immer in Veranstaltungen der Klinik für Psychiatrie als Gasthörer antreffen. Sein Fazit fällt ernüchternd aus: „Hier hat sich die Bedeutung des Sozialen spürbar verringert. Wissenschaftliche Fragestellungen, wie z. B. nach der Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen für schwerstkranke Patienten, der Gewaltvermeidung, der Reduzierung von Psychopharmaka oder der Stärkung der Psychotherapie bei der Behandlung von Schwerstkranken spielen aus meiner Sicht keine Rolle.“

Neben vielen Erinnerungen erhält er aber auch alte Bande aufrecht: „Zu einigen Kommilitonen habe ich heute noch einen guten Kontakt, eine Mitstreiterin aus AStA und StuPa sitzt jeden Morgen in der Frühkonferenz neben mir, wenn wir gemeinsam versuchen, die Psychiatrische Klinik in Lüneburg zu einem besseren Krankenhaus zu machen.“

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