Während meiner Famulatur in einem Paderborner Krankenhaus lerne ich die Patientin Jutta Nunn kennen. Sie ist eine sympathische, offene Dame, die das Gespräch sucht und gerne erzählt. Als ein solches Gespräch während einer Blutentnahme auf meinen Studienort fällt, nennt sie Lübeck ihre zweite Heimat. Ein paar Sätze später weiß ich, dass die 87-jährige im Frühjahr 1942 Patientin in Strecknitz, also in den Gebäuden, die im Osten des Campus liegen und heute unter anderem von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie genutzt werden, war.

Die Gebäude der Heilanstalt Strecknitz werden heute u.a. von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie genutzt.Lukas Ruge

Die Gebäude der Heilanstalt Strecknitz werden heute u.a. von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie genutzt.

Strecknitz war ein Jahr zuvor als Nervenheilanstalt von den Nationalsozialisten aufgelöst worden, die Patienten wurden im Zuge der Euthanasie-Programme in „Durchgangsanstalten“ ermordet. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde dies nicht zuletzt durch das Engagement von Peter Delius, MHL-Student in den Achtzigern und heute Psychiater in Lübeck, der auch seine Dissertation über die Heilanstalt verfasste. Er wertete die Patientenakten der Deportierten aus und brachte die Schicksale der Insassen ans Tageslicht. Wie er daran kam, erzählt Delius im Interview: „Professor Dilling, der Leiter der psychiatrischen Klinik, hat uns damals Akten über die Patienten in Strecknitz zur Verfügung gestellt. Besser gesagt: Er hat uns den Schlüssel zu einem Raum gegeben und gesagt, dort könnte was zu finden sein, oben im Turm. Da haben wir dann gesucht, die Akten gefunden und schließlich publiziert.“ Dies wurde jedoch nicht von allen wohlwollend aufgenommen. „Da ging’s dann richtig hoch her! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig das war, damals über die Geschichte der Universität oder damals der Medizinischen Hochschule zu sprechen, weil das als Nestbeschmutzung galt. Die Akteure – das waren außer mir noch zwei, drei andere – wurden nicht nur zeitweise aus den Gremien ausgeschlossen, sondern richtig bedroht – sogar mit Mord. Das war ein Hochschullehrer, der uns damals bedroht hat, kein kleines Licht. Über die Heilanstalt Strecknitz zu sprechen wurde damals nicht als historische Aufarbeitung empfunden, sondern als Makel auf dieser jungen Hochschule angesehen. Es wurde vielmehr die Gefahr gesehen, dass diese naturwissenschaftliche Hochschule kontaminiert werden könnte mit der Ermordung beziehungsweise Deportation von psychisch Kranken.“

An einem freien Nachmittag treffe ich mich mit Frau Nunn zu einem längeren Gespräch. Sie erzählt: „1942 bekam ich Scharlach, das war von April bis Mai. Da kam ich erst für drei Tage ins Krankenhaus Süd bis ich dann nach Strecknitz verlegt wurde. Damals war ich noch sehr jung, vierzehn genauer gesagt, und bin furchtbar traurig gewesen. […] Allmählich habe ich mich dann beruhigt. Wir hatten ein wunderschönes, helles Zimmer. Eine Arbeitsmaid, in der Hitlerzeit war das ja noch der Arbeitsdienst, war da auch noch mit mir im Zimmer und zusätzlich war da noch eine Kinderpflegerin. Ganz plötzlich dann mussten wir aus diesem herrlichen, lichtdurchfluteten Zimmer raus und mussten den Gang runter in so ein kleines Dreibettzimmer, in dem es immer ganz dunkel war. Wir waren darüber sehr wütend, das war nämlich, weil unter den Finanzschülern in Mölln Scharlach ausgebrochen war und die dann haufenweise ankamen. Als wir die zum ersten Mal gesehen haben, dachten wir nur: ‘Ihr seid doch Idioten! Wie seht ihr denn aus?’ Achtzehn- und neunzehnjährige große Jungs mit ganz kurzen Cordhosen und dann noch diese braune Uniform mit dem Hakenkreuz am Arm. Also für uns sahen die aus wie Clowns. Aber einige von denen waren ziemlich krank und als wir dann schon wieder etwas aufstehen durften, haben wir den Krankenschwestern mitgeholfen, dass wir denen mal Wasser brachten und so weiter. Gegenüber befand sich die Tuberkulose-Station. Ab und zu haben wir gesehen, wie sie die Leichen in Wannen hinausgeschleppt haben. Das war für uns junge Menschen schon ziemlich beängstigend.

Ich hatte zwei Ärztinnen – Ärzte gab es ja nicht – es war schließlich Krieg, man kann sich ja vorstellen, wo die waren. Der einen Ärztin konnte man kein Lächeln abringen, die hat einem immer nur auf den Bauch geguckt und die Mandeln abgetastet, von der waren wir nicht so begeistert. Die andere war eine recht hübsche dunkelhaarige, die sich auch schon mehr mit uns abgegeben und sich immer, wenn wir traurig waren zu uns ans Bett gesetzt hat. Besonders bei einer Patientin – die war siebzehn Jahre alt und von oben bis unten in Watte gepackt, weil sie durch den Scharlach ganz schlimmes Rheuma bekommen hatte. Der konnte man den Puls nur am Ohr fühlen. Mit der hat sie sich viel Zeit gelassen, sie hatte ja auch sehr starke Schmerzen. Also von der Ärztin waren wir alle begeistert, die andere war nicht so beeindruckend, eben weil sie so ernst und stur war. Vielleicht war die schon an der Front gewesen, man weiß das ja nicht. Die Oberschwester war aber auch in Ordnung und die anderen Krankenschwestern haben sich sehr viel Zeit für uns genommen.“

Jutta Nunn beobachtet einen Abtransport

Nach der Auflösung der Heilanstalt brechen viele Chroniken ab. Infolge eines verheerenden Bombenangriffs auf Lübeck im März 1942 nahm die Stadt die Gebäude zur Unterbringung der Verletzten in Anspruch. Aber auch weiterhin wurden in Strecknitz psychiatrische und behinderte Patienten, die vom Nazi-Regime als „Ballast“ verurteilt worden waren, eingesperrt. Ihnen erging es wie den 605 Patienten, die ein Jahr zuvor deportiert worden waren. Jutta Nunn beobachtete damals einen solchen Abtransport: „Als wir dann öfter und länger aufstehen durften, sind wir bei schönem Wetter manchmal auf einen kleinen Balkon am Ende von Haus 1 gegangen. In Haus 2 waren damals auch die geistig Behinderten. Wir konnten die – meistens waren es Frauen – da hinter Gittertüren sehen, wie sie uns durch diese Türen anguckten. Das war beeindruckend für uns, denn dass diese Leute hinter Gittern waren, das fanden wir nicht gut. Schließlich wussten wir, dass nicht alle geistig Behinderten gleich sind. […] Jedenfalls kamen eines Tages ganz viele Krankenwagen vorgefahren und brachten diese Leute raus. Einige wurden von den Krankenschwestern – die müssen das ja gewusst haben, wo die hingebracht wurden – an der Hand geführt, andere waren an einer Trage festgebunden. Die kamen alle weg. Wir haben dann eine Krankenschwester gefragt, wo die denn hinkämen und die meinte nur: ‘Wir brauchen hier den Block. Die kommen alle nach Eckernförde.’ Wir wussten ja nicht, was da vor sich geht. Wir wussten zwar, dass es Konzentrationslager gab, aber uns wurde immer erzählt, dass da Leute hinkämen, die arbeitsscheu waren, deshalb wurde das ja auch nur Arbeitslager genannt. In Wirklichkeit war das ja alles ganz anders.“

Die Inschrift des 1983 aufgestellten Gedenksteines erinnert an die deportierten Patienten.Lukas Ruge

Die Inschrift des 1983 aufgestellten Gedenksteines erinnert an die deportierten Patienten.

Wenig später wurde Jutta Nunn entlassen. Ein paar Jahre später kehrt sie aber wieder nach Strecknitz zurück. „Über die Jahre habe ich dann auch nicht mehr erfahren, bis ich dann in meiner Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin auf die gynäkologische Station, das war ganz unten so ein querstehender Block, damals war da noch ein Professor Kirchhoff drin, kam. Das war Ende 1946 und 1947. Uns wurde da beigebracht, wie man für die Frühchen so eine Extra-Kost zubereitete. Dafür waren wir in einer Teeküche und da war auch eine ältere Krankenschwester, mit der ich mich über die Klinik unterhalten habe. Und als ich ihr dann erzählte, dass ich 1942 sechs Wochen lang mit Scharlach hier gelegen hatte und hatte ihr auch das mit dem Abtransport der Behinderten erzählt. Da sagte dann diese Schwester mit einem ganz komischen Lächeln auf dem Gesicht: ‘Eckernförde? Die haben wir alle in die Gaskammern gebracht!’ Das war für mich so schrecklich! […] Ich habe mir dann immer wieder diese Gestalten vorgestellt, die hinter diesen Gittern zu uns rüber guckten, und dann ist mir das erst bewusst geworden: Die haben diese Leute vergast. Das war so entsetzlich für mich, dass mich heute noch, wenn ich an diese Menschen denke, so ein Schaudern überkommt. Wir haben ja auch nie empfunden, dass die verrückt sind. Für uns waren das nur arme, kranke Menschen. Und seitdem ich das erfahren hatte, denke ich immer daran, dass diese Menschen ja auch Eltern hatten. Was hat man denen erzählt, als man ihre Kinder weggebracht hat? Und das waren ja Unmengen, die da waren. Als das später in den ganzen Verhandlungen gegen die Nazis rauskam, da hat man dann ja erfahren, dass, wenn jemand im Konzentrationslager in Anführungszeichen ‘verstarb’, man den Angehörigen gesagt hat, er wäre an Herzversagen gestorben. Aber das war dann ja ganz anders gewesen.“

Ein Mahnmal wird aufgestellt

Seit 1983 erinnert ein Gedenkstein vor Haus 6 an die Deportation im Jahre 1941. Die Errichtung war ein gemeinsames Projekt von Studenten und Professoren, das jedoch auf einigen Widerstand stieß. Peter Delius erzählt davon: „Das war wirklich nicht einfach. Da haben sich dann aber einige Hochschullehrer auch wirklich drum verdient gemacht. Die Studenten alleine hätten das damals nicht durchsetzen können. Lange Zeit ging es darum, ob es eigentlich ‘Mahnmal’ heißen darf, weil es einigen – auch dem damaligen Präsidenten der Medizinischen Hochschule – viel zu weit ging, dass da ‘gemahnt’ wurde. Es sollte eher eine neutrale Information sein.“ Die Vergangenheit der Universitätsgebäude ist heute ein fester Bestandteil der Medizingeschichte-Vorlesung, aber auch das war nicht immer so: „Bis 1980 war im Vorlesungsverzeichnis kein Wort über die Tatsache zu finden, dass die Medizinische Hochschule in den Gebäuden eines psychiatrischen Krankenhauses gegründet wurde, deren Insassen vorher deportiert wurden. […] Für viele von den Medizinhistorikern war das gar kein Thema, weil sie fanden, dass Geschichte nicht Zeitgeschichte sein darf, sondern zurückliegen muss. So ist es mit der Bewältigung der NS-Verbrechen – es müssen mehrere Generationen darüber hinweggehen; die letzten Täter müssen, na ja, nicht gestorben, aber zumindest so alt sein, dass sie nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen werden können. Dann kann darüber so pragmatisch gesprochen werden, wie Sie das heute tun. Doch damals waren noch zu viele Väter involviert in die Geschichte des Nationalsozialismus, die als drohende Instanz im Hintergrund immer spürbar waren.“

Trotz ihrer Erlebnisse behält Jutta Nunn auch die guten Erinnerungen an das Krankenhaus im Gedächtnis: „Was schön war: Es war so weit man sehen konnte, wie ein Park angelegt war mit Rasen und riesigen Bäumen an beiden Seiten. Das war so schön, aber wohl schon älter – von Hitler war das ganz bestimmt nicht angelegt. Der Mensch, der das geplant hat, wird sich sicherlich gedacht haben, dass man diesen Patienten ja auch was Nettes bieten muss.“ Sie ist auch weiterhin mit Lübeck verbunden. Zwar kann sie die Stadt nicht mehr so oft besuchen, zu Weihnachten gibt es bei ihr aber immer Lübecker Marzipan.

„Ich kann mich noch erinnern, wie ich damals oben am Kohlmarkt gestanden, die Mühlenstraße runter geschaut und dabei gedacht habe: ‘Wenn der Krieg vorbei ist, dann wirst du wieder hier stehen und guckst dir das an, wenn das alles heil ist.’ Als ich das dann das erste Mal wieder gesehen habe, war ich schon mit meinem Mann verheiratet und da habe ich dem das alles erzählt.“

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