StudentenPACK: Von wann bis wann waren Sie an der Uni Lübeck und warum haben Sie sich Lübeck als Studienort ausgesucht?

Sebastian Stierl: Vom Sommersemester 1976 bis zum Staatsexamen im Herbst 1980 als Student, Abschluss der Promotion zum Dr. med. im Mai 1982. Nach dem Physikum bin ich von Marburg nach Lübeck gewechselt. Ich suchte einen persönlicheren Kontakt mit den Lehrenden und mehr Zusammenhalt unter uns Studenten. Die Medizinische Hochschule Lübeck war gefühlt eher eine Dorfschule gegenüber der Lernfabrik in Marburg. Schließlich fand ich die alte Stadt und das nahe Meer reizvoll.

StudentenPACK: Was war Ihr beeindruckendstes Erlebnis während Ihrer Zeit in Lübeck?

Stierl: Für mich war es der bundesweite PJ-Streik, also die Studienverweigerung als Protest gegen das sogenannte „Praktische Jahr“. Dies wurde als verstärkte Praxisorientierung des Medizinstudiums verkauft, erwies sich im richtigen Leben aber häufig als billige Hilfsarbeit auf Station ohne systematische Anleitung und das dafür erforderliche Personal. In der auf Harmonie getrimmten Atmosphäre der MHL war der erstaunlich geschlossene Protest der Studenten eine Ungeheuerlichkeit. Dabei wurde ich vom Ordinarius der Orthopädie und Reserveoffizier Professor Henßge als Rädelsführer ausgemacht. Er veranlasste die Einleitung eines Ordnungsverfahrens, das immerhin die Relegation als stärkste Sanktion vorsah. Die Disziplinierungsaktion nach außen wurde parallel mit einem Stellenangebot nach dem Studium in seiner Orthopädischen Klinik verbunden(!). Letztlich ging es um Spaltung. Erreicht hat er damit das Gegenteil: als AStA-Vorsitzender haben sich die Kommilitoninnen und Kommilitonen demonstrativ hinter mich gestellt. Letztlich musste ich das Ordnungsverfahren aber durch zwei Instanzen gegen die MHL juristisch „niederringen“. Insgesamt eine aufregende Zeit, die mich besonders die Bedeutung von Solidarität gelehrt hat. Dabei war die Hochschulleitung keinesfalls ein geschlossener Block. Das Angebot einer Doktorarbeit durch Professor Horst Dilling war zum Beispiel eine demonstrative Sympathiebekundung.

StudentenPACK: Damals studierte man in Lübeck ja noch direkt an der innerdeutschen Grenze. Wie viel hat man davon während des Studiums mitbekommen?

Stierl: Die DDR spielte im alltäglichen Leben keine besondere Rolle. Beim Segeln auf dem Ratzeburger See waren einige Uferabschnitte tunlichst zu meiden! Der große Informationsmangel über die konkreten Lebensbedingungen hat uns als Medizinstudenten besonders neugierig gemacht. Mit einigen Kommilitonen aus Lübeck und Kiel habe ich an einer mehrtägigen Exkursion des MSB-Spartakus nach Neubrandenburg teilgenommen, bei der wir medizinische Einrichtungen besichtigten. Die größte Angst hatten wir damals bei der Rückkehr vor einem möglichen Berufsverbot in der BRD!

StudentenPACK: In unserer Vorgängerzeitung, dem „Springenden Punkt“, wird die Zeit, in der Sie Vorsitzender des AStA waren, als hochschulpolitisch sehr brisant beschrieben. Immer wieder ist von Studentenstreiks und dem 1. Ordnungsverfahren der MHL gegen Sie die Rede. Was war da eigentlich los?

Stierl: Tatsächlich war die Zeit damals für Lübecker Verhältnisse recht lebhaft. Im Vergleich zu den wochenlangen Besetzungen des AStA-Büros an der Uni Marburg mit Polizeieinsätzen und großen Demonstrationen wirkte die MHL allerdings geradezu idyllisch. Aber immerhin: ein neues Hochschulrahmengesetz wurde verabschiedet, das wir als massiven Angriff auf die Verfasste Studentenschaft mit ihren Organen Vollversammlung und Urabstimmung verstanden haben. Und immer wieder ging es um das „Politische Mandat“, also die Möglichkeit, aus der Studentenschaft heraus auch allgemeinpolitische Stellungnahmen abzugeben (zum Beispiel zur Kernenergie oder zum Einfluss der Industrie auf die Wissenschaft durch die anwachsende Drittmittelforschung). Auf die Änderungen der Approbationsordnung, die sich konkret auf Studieninhalte und -abläufe für uns Medizinstudenten auswirkte, bin ich oben schon eingegangen. Tatsächlich haben wir uns intensiv mit solchen hochschulpolitischen Fragen beschäftigt, endlose Debatten in den verschiedenen Gremien geführt und Wandzeitungen und Flugblätter verfasst. Das Ganze hat aber auch deshalb erstaunliche Kräfte freigesetzt, weil es in der Verbindung von Politik und Studium auch noch eine Kultur des Zusammenhalts gab, die sich zum Beispiel in tollen AStA-Feten ausdrückte.

StudentenPACK: …und was folgte daraus?

Stierl: Rückblickend habe ich schon den Eindruck, dass in der damaligen Ärztegeneration ein kritischeres Bewusstsein von der eigenen gesellschaftlichen Rolle entstanden ist. Bei dem einen oder anderen mag es dazu beigetragen haben, dass er sich später beruflich stärker politisch engagiert hat und die Verbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen und Gesundheit etwas tiefgehender durchdrungen hat.

StudentenPACK: Was hat Sie damals bewogen sich so sehr in der Hochschulpolitik zu engagieren?

Stierl: Für mich war es die Fortsetzung einer schon als Schüler politisch engagierten Haltung. Ein prägendes Erlebnis waren die Aktionen gegen BILD und den Springer-Verlag nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke Ostern 1968, an denen ich als 16-jähriger Schüler in Essen teilgenommen habe. Bis heute bin ich davon überzeugt, dass dieses Land die Katastrophe des Nationalsozialismus nicht verstanden hat. Die notwendigen Konsequenzen wurden unter dem Wiedererstarken des Kapitals erstickt, statt Bildung und Gerechtigkeit haben sich das Recht des Stärkeren und ein Raubbau an den Ressourcen ausgebreitet.

StudentenPACK: Welches Verhältnis haben Sie heute zur Universität Lübeck?

Stierl: Hin und wieder besuche ich Veranstaltungen der Psychiatrischen Klinik der MUL. Hier hat sich die Bedeutung des Sozialen spürbar verringert. Wissenschaftliche Fragestellungen, wie zum Beispiel nach der Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen für schwerstkranke Patienten, der Gewaltvermeidung, der Reduzierung von Psychopharmaka oder der Stärkung der Psychotherapie bei der Behandlung von Schwerstkranken spielen aus meiner Sicht keine Rolle. Zu einigen Kommilitonen habe ich heute noch einen guten Kontakt, eine Mitstreiterin aus AStA und StuPa sitzt jeden Morgen in der Frühkonferenz neben mir, wenn wir gemeinsam versuchen, die Psychiatrische Klinik in Lüneburg zu einem besseren Krankenhaus zu machen.

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