In der 56. Ausgabe der Studierendenzeitung der Springende Punkt vom Dezember 1989 erschien der erste Teil der dreiteiligen „Geschichte vom Hypomochlion” von Andrea Löseke. Leider war Ausgabe 57 die letzte Ausgabe jener Zeitung, in der auch der zweite Teil aufzufinden war, und so blieb das Schicksal des Hypomochlions bis heute unbekannt.

Für das StudentenPACK zum 50. Jubiläum der Universität zu Lübeck haben wir Andrea Löseke, inzwischen Frauenärztin in Krefeld, gefragt: Ist der dritte Teil noch aufzufinden? Ja. Und so beenden wir nun die Geschichte, die vor 25 Jahren begann.

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Andrea Löseke

Was bisher passiert ist: Am besten, Ihr schaut in die alten SpriPus (Ausgabe 56 und 57 in unserem Archiv zu finden) und lest nochmal von vorne.

  • Hypomochlion: Held der Geschichte, ist in die Arachnoidea verliebt und hat sie gerade aus der Gefangenschaft von Mister Trigeminus befreit
  • Arachnoidea: schönstes, aber gefühlloses Wesen, das zuletzt von Mister Trigeminus entführt wurde
  • Mister Trigeminus: berüchtigter Verbrecher, der von Amygdala verhext worden ist und durch einen Sturz bewusstlos ist
  • Amygdala: Hexe, die in Mister Trigeminus verliebt ist und gerade versucht, ihn aufzuwecken
  • Umbo: Schrecken des Himmels, ebenfalls in Arachnoidea verliebt
  • Mister Pylorus: Wächter des Gasters – hier wurde Arachnoidea gefangengehalten
  • Lien: schwermütiger Drachen, der kein Feuer speien kann und dem für seine Hilfe bei der Entführung Arachnoideas ewige Jugend versprochen wurde
  • Die Glissonschen Trias: spinnen Intrigen und mischen sich in alles ein
  • Limba: Freundin der Arachnoidea
  • Hippokampus: ein helfendes Reittier

Das Hypomochlion rannte also in die Intertragika, die inzwischen wieder aufgewachte Arachnoidea auf dem Rücken tragend. Er gelangte immer tiefer in Gebiete, die ihm völlig unbekannt waren. Er wusste auch nicht, ob er jemals wieder herauskommen würde. Die alten Mythen berichteten über die Intertragika, dass sie Zugang zum Schicksal biete. Sollte es jemand wagen, hierher vorzudringen, so würde das Schicksal, das ja die Geschichte aller Lebewesen lenkt und daher unerkannt bleiben muss, unwiederbringlich erlöschen und blinder Zufall würde die Welt beherschen. Außerdem würde niemand, der die Intertragika betritt, jemals wieder blauen Himmel sehen können, weil er nämlich dazu verdammt werden würde, für ewig die Kugeln des Zufalls zu rollen, die dann über die Zukunft aller bestimmen würden.

Auch die alten bekannten Heldenlieder schossen dem Hypomochlion durch den Kopf, während er mit Arachnoidea immer tiefer vorwärts stürzte. Aber es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Immer noch war Umbo hinter ihnen her.

Doch die Liebe des Hypomochlions war um vieles größer als alle Furcht – er glaubte an die Kraft seiner Liebe, sodass er im Stillen sogar davon überzeugt war, Auricula, die Herrin des Schicksals, würde ihn erhören und ihm verzeihen, dass er ihre unbetretbaren Gänge betreten hatte.

Während der ganzen Zeit hörte er das Pusten und Japsen von Umbo dicht hinter sich, einmal hatte er sogar den Eindruck, dass sein Nacken von dem kurzen, kalten Atem des Umbo leicht gestreift wurde. Das jagte dem Hypomochlion einen furchtbaren Schauer über den Rücken und er nahm noch einmal all seine Kraft zusammen um noch schneller zu laufen. Da hörte er plötzlich ein lautes Fluchen. Umbo brüllte, er würde doch nicht wegen einer Frau das Schicksal der Welt erzürnen. Das Japsen und Stöhnen wurde leiser, Umbo hatte die Verfolgung eingestellt und war umgekehrt. Umbo, obwohl er der Schrecken des Himmels war, hatte fürchterliche Angst vor Auricula, da diese viel mächtiger war als er selbst. Auch Umbo hatte die Regeln des Schicksals zu beherrschen und musste sich danach richten.

Was war inzwischen im Gaster geschehen? Mister Trigeminus erwachte nach den zahlreichen Versuchen der Hexe endlich, rieb sich die Augen und sah gerade noch, wie das Hypomochlion mit der Arachnoidea in der Intertragika verschwand. Laut rufend stürzte er bis zum Eingang. Er traute sich aber keinen Zentimeter hinein, weil er die alten Mythen sehr genau kannte. Auch gab es für ihn jetzt keinen Grund mehr.

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Andrea Löseke

Mister Trigeminus war zwar inzwischen zu einem gemeinen Verbrecher geworden, aber gerade deswegen hatte er so schreckliche Angst vor dem Schicksal, dass er alles andere darüber vergaß. Da war er sich mit Amygdala völlig einig. Sie wussten, dass das Schicksal eines Tages Tribut verlangen würde für das begangene Unrecht. Diesen Tag schoben beide gedanklich weit weg, hoffend, er würde niemals kommen. Amygdala hatte Mister Trigeminus durch ihre Wiederbelebungsversuche noch mehr in ihren Bann gezogen, die letzten Flammen Leben waren von ihm gewichen. Jetzt wusste Mister Trigeminus nicht mehr, dass er verzaubert worden war. So können wir den letzten Funken Hoffnung auf eine glimpfliche Rettung für Mister Trigeminus getrost aufgeben, egal, wie seine Geschichte enden wird.

Eigentlich war es aber klar, dass Arachnoidea als getötet zu gelten hatte, weil allen klar war, dass niemand aus der Intertragika zurückkommen würde. So heiratete Amygdala Mister Trigeminus, wie sie es versprochen hatte. Ihre Augen sprühten und funkelten, wie es sich für eine Hexe, die ja schließlich am Ende ihres Lebenstraumes stand, gehörte. Die Glissonschen Trias organisierten die Zeremonie zum Entzücken der anderen Besucher der Gegend, die inzwischen durch die Tageszeitung vorinformiert waren. Mister Pylorus war inzwischen ganz der Alte. Er ließ sich das Geschehene erzählen und versprach mehrmals, nie wieder würde er so viel Endorphinwein trinken, denn, man sehe ja, was dabei heraus kommen würde. Da er aber so verschlossen war, zog er sich zurück, um seinen Gaster von den Tränen zu befreien. Er nahm nicht an der Hochzeitsfeier teil. Besonders entsetzt war der Verschlossene, dass er im Rausch aus seiner wilden und engagierten Jugend erzählt hatte. Jetzt hoffte er, dass bald alles in Vergessenheit geraten würde.

Lien, der alte Drache, weinte immer noch. Seine Augen waren schon furchtbar rot und geschwollen, aber die Traurigkeit wollte nicht von ihm weichen. Er forderte Amygdala nun auf, ihr Versprechen wahr zu machen. Das konnte Amygdala natürlich nicht, weil sie Unerfüllbares versprochen hatte, wie wir ja wissen. Als Lien einsah, dass er auf hinterhältigste Weise betrogen worden war, gab er allen Lebensmut auf, er wurde noch älter und konnte nun überhaupt kein Feuer mehr spucken. Jetzt brachte er gerade noch eine kleine Rauchwolke zustande. Er zog sich tief betrübt zurück, ja er wusste gar nicht, weshalb er überhaupt noch lebte und begann darüber nachzudenken sich das Leben zu nehmen. Feuerspeien und Leute erschrecken, das waren schließlich die wahren Aufgaben eines Drachens, der fürchterlich und grausam sein wollte. Leider war das Lien nie so ganz gelungen, auch in seiner Jugend nicht, da er immer schon ein viel zu weiches Herz besessen hatte, um grausam zu sein. Nun glaubte er also, er hätte sein Leben gelebt, ohne sein Ziel jemals zu erreichen, was ihn natürlich noch trauriger machte.

Als er nach mehreren Stunden einsamen Nachdenkens zu dem Entschluss gekommen war, dass sein Ende nah ist, nahm er seine Ossikulae zusammen (das waren kleine Knöchelchen, mit denen er die Zukunft voraussagen konnte) und warf sie ein letztes Mal in den Sand. Die Konstellation war sehr eigenartig. Man verhieß ihm ewiges Glück und all das, was er sich schon so lange wünschte, aber Lien konnte keinen Anhaltspunkt erkennen, wie er all das erlangen sollte. Darin lag nämlich das Geheimnis der Ossikulae, sie verieten nie die ganze Zukunft: War nun Selbstmord der richtige Weg?

Wenden wir uns nun aber dem Hypomochlion zu. Doch zuvor müssen wir kurz eine Besonderheit unserer Gegend erklären, die von Bedeutung sein wird: Die Faselase.

Die Faselase: ein faseriges grünliches Gewächs, das überall wächst, kaum Licht und Wasser braucht und ein sehr wirkungsvolles Mittel war, nur das wuste keiner. Man hielt die Faselase für ein Unkraut und riss es aus, wo man es nur fand. Zufällig nun hatte das Hypomochlion, seiner Gewohnheit folgend, die wiederum seinem sehr ordentlichen Charakter folgte, als er vom Salpingobaum gesprungen war, auf der Erde etwas Faselase entdeckt, diese ausgerissen und, weil sich gerade kein Abfalleimer in der näheren Umgebung befand, einfach in seine Hosentasche gesteckt.

Als er nun kein Laufen und Stöhnen mehr hinter sich vernahm, hielt er mitten im Laufen inne und setzte Arachnoidea, die inzwischen schon etwas blau angelaufen war und kaum noch atmete, ab. Zufällig fiel ihm dabei die Faselase aus der Tasche, die sich auf Arachnoideas Brust senkte und diese zu neuem Leben erweckte. Selbige schlug die Augen auf und machte einen sehr überraschten Eindruck.

„Wer bin ich, wer bist du?“

„Ich bin das Hypomochlion und habe dich aus dem Gaster befreit, in dem du gefangen warst, erinnerst du dich?“, sagte das Hypomochlion bescheiden. Dabei blickte er beschämt auf den Boden. Leichte Röte überzog seine Ohrenspitzen, und das trotz der Aufregung.

Arachnoidea erwiderte: „Ja, ja, daran erinnere ich mich. Ich dachte, ich muss ertrinken. Du hast mich in der letzten Sekunde gerettet. Ich danke dir, tapferes, kleines Hypomochlion.“ „Aber das war doch selbstverständlich.“ „Aber sage mir, wo bin ich jetzt, hier ist es ja schrecklich kalt!“ „Oh, Arachnoidea, du empfindest etwas! Wie kann das geschehen? Das muss an der Faselase liegen.“ Letzteres sagte er schon mehr zu sich als zu Arachnoidea, die ihm auch nicht zugehört hatte. Sie wunderte sich sehr und musste nun die Unmenge neuer Gefühle ordnen, die auf sie einströmten. Sie bemerkte, wie viele völlig unbekannte Gefühle in sie hineinkrochen, auch konnte sie Kälte und Wärme empfinden und sie begann zu spüren, dass das Hypomochlion sie liebte.

Jenes erzählte ihr nun, wo sie waren. Gemeinsam überlegten sie, was zu tun sei. Doch es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Das Hypomochlion hörte laute Schreie aus der Ferne, aus dem Inneren der Intertragika kommend. Auricula näherte sich ihnen mit ihren Petrosen. Petrosen sind alte und weise Helfer, die der Auricula bei der Fällung des Schicksals ratgebend zur Seite stehen.

Ein jeder kann sich denken, was jetzt passieren muss oder passierte alles doch ganz anders? Wir jedenfalls werden es nicht betrachten, da alles, was in der Intertragika passiert, Geheimnis ist und auch bleiben soll.

Setzen wir also zu einem späteren Zeitpunkt einer langen Unterredung ein und überlassen das Gewesene der Phantasie unserer Leser.

Auricula überlegte und sagte: „Dein Herz, Hypomochlion, fordere ich als Tribut!“

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Andrea Löseke

Da hob das Hypomochlion seine Stimme und sagte „Schau mich bitte nicht so traurig an, weil ich dir mein Herz nicht schenken kann. Du weißt doch genau, ich gab es fort, du weißt, ich gab mein Wort. Mach doch mal ein fröhliches Gesicht. Tränen in den Augen stehen dir nicht. Sicher kommt ein anderer daher und du wirst sehen, der liebt dich sehr. Lass in deinem Herzen dir die Illusion, sicher kommt die Liebe morgen schon. Schau mich bitte nicht so traurig an, weil ich dir mein Herz nicht schenken kann.“ (In dankbarer Anlehnung an Thomas Fritsch)

Da war die Auricula so gerührt, dass sie überhaupt nichts mehr sagen konnte. Nachdem sie sich wieder etwas gefangen hatte, entließ sie das Hypomochlion und die Arachnoidea mit den Worten „Eure Liebe hat mich überzeugt.“ Sie nahm den beiden das Versprechen ab, keinem etwas darüber zu erzählen, was sie hier gesehen oder erlebt hatten. Auch durften sie nichts über Auricula erzählen.

Die beiden, vom Glück erfasst, gingen also zum Eingang zurück, wissend, dass jetzt alles gut werden würde.

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