Die nackte Angst steht mir ins Gesicht geschrieben. In der linken Hand halte ich meinen Studentenausweis, von nasskaltem Schweiß ummantelt. Außer mir steht niemand sonst an der Bushaltestelle. Ein Zeichen? Ich bin mir plötzlich nicht mehr so sicher, hier richtig zu sein. Die Haltestelle Kastanienallee liegt ruhig im frühjährlichen Sonnenschein der späten Mittagsstunde, eine laue, fast schon sommerliche Brise umweht flüsternd das Wartehäuschen Richtung Innenstadt. Und dann kommt er: Der Schicksalsbus. Die Linie 1. Der Bus, der nie am ZOB ankommen wird…
Rückblick. Das erste Mal wurde ich vor etwa einer Woche stutzig. Ich wollte zum Hauptbahnhof fahren und suchte auf meinem Laptop nach einer Route zum Bahnhof mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Eilig hatte ich es nicht, ich wollte nur alle möglichen Verbindungen sehen. Doch dann… Merkwürdig. Die Linie 1 fährt alle 15 Minuten, die Linie 9 ebenso, das ist offensichtlich. Nur zwischen 13:24 Uhr und 13:54 Uhr fährt nichts. Kein einziger Bus in Richtung Innenstadt. Ich änderte die Sucheinstellungen, verglich die Ergebnisse mit meinem Handy – nichts. Nun gut, dachte ich, vielleicht sind die Fahrzeiten wirklich ein wenig merkwürdig, das kommt beim Lübecker Stadtverkehr ja durchaus mal vor. Aber jetzt wollte ich es genau wissen. Ich ging zur Bushaltestelle und verglich die Pläne der Deutsche-Bahn-App mit den aushängenden Plänen. Ungläubig musste ich feststellen, dass auf dem Fahrplan des Stadtverkehrs tatsächlich mehr Busse fahren als in der Deutsche-Bahn-App verzeichnet. Kann es wirklich sein, dass auf dieser Strecke täglich 21 Busse verschwinden?
Es kommen Fragen auf über das, was da genau passiert. Unterschlägt die Deutsche Bahn Busse? Verschweigt sie Routen und Verbindungen? Oder verschwinden diese Busse unterwegs und erreichen niemals ihr Ziel? Verstörende Gedanken. Was wäre, wenn die Deutsche Bahn Busse bewusst verschwinden ließe? Ein Komplott? Vielleicht was mit den Illuminaten? Ich überlege mich mit Galileo Mystery in Verbindung zu setzen, aber die hängen da bestimmt schon viel zu tief drin. Und ich jetzt womöglich auch? Bestimmt haben sie mich schon im Visier, die Busmafia, die willentlich Busse irgendwo zwischen der Kastanienallee und dem ZOB verschwinden lässt!
Vielleicht ein Fehler? Ich schreibe dem Bahn-Online-Support und schildere meine beunruhigenden Entdeckungen – keine Antwort. Nichts. Fast eine Woche warte ich, aber niemand antwortet. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Neugier und Verstörung. Stundenlang hocke ich in der Zimmerecke und warte darauf, dass sie mich abholen kommen. Es bleibt nur eine Lösung: Angriff. Ich muss einen dieser Geisterbusse erwischen, einsteigen und dem Geheimnis auf den Grund gehen, komme was wolle, nur um jemals wieder ruhig schlafen zu können. Deshalb stehe ich hier, mit weichen Knien und nervösem Zittern im ganzen Körper. Dann kommt der Bus, der verhängnisvolle Bus um 13:39 Uhr. Er hält. Ich schlucke. Jetzt heißt es einsteigen. Ich zögere. Was passiert nachdem man verschwunden ist? Muss man bis in alle Ewigkeit in den Eisenbahnschienen-Minen der Deutschen Bahn als Sklave unter der Herrschaft peitschender Schaffner und Lokführer verbringen? Vielleicht kann ich es euch noch erzählen. Ansonsten: Gute Fahrt…

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