Die Rechtsabteilung der Hansestadt Lübeck bekommt wahrscheinlich eher selten Fragen über Unterwäsche im Mittelalter gestellt. Doch eine Legende verlangte danach, aufgeklärt zu werden, und da fragte ich lieber die Experten.

Alles beginnt letzten Sommer beim Grillen an der Obertrave. Die Sonne scheint und alle paar Minuten tuckert ein eng mit Touristen bepacktes Schiff vorbei. Wir alle – einschließlich unseres Grills – werden Teil unendlich vieler Urlaubsfotos, die eigentlich versuchen, den Dom und das darunter liegende Gängeviertel einzufangen. Aber wir haben auch etwas von dem ganzen Trubel: Aus den Lautsprechern der vorbeifahrenden Touri-Kähne ertönt die Stimme eines Fremdenführers und erklärt uns etwas über den Dom („Backsteingotik“, „800 Jahre alt“), über das Viertel („Die Gänge müssen genau so breit sein, dass ein Sarg durch passt“) und die Überschwemmungen („Das kann ganz schön schnell gehen“).

„Das Ufer der Trave. Gibt es hier ein 600 Jahre altes Sonderrecht?“

“Das Ufer der Trave. Gibt es hier ein 600 Jahre altes Sonderrecht?”

Und dann wäre da noch das Unterwäscheprivileg: „Hier dürfen sie noch ganz offiziell“, so tönt es wieder und wieder aus den Lautsprechern „ihre Wäsche an der Straße aufhängen, das ist noch ein Privileg aus dem 14. Jahrhundert. Das darf man in keiner anderen Großstadt Deutschlands. Die Straße wird deswegen auch oft die „Schlüpfer-Allee“ genannt…“ Wenn man es oft genug hört, glaubt man es irgendwann. Wenn man es dann noch öfter hört, fängt man an, Fragen zu stellen.

Im 14. Jahrhundert war Lübeck eine reichsunmittelbare Stadt im „Heiligen Römischen Reich“, wo das gültige Recht Statuten wie das Goldmünzenrecht, Wormser Konkordat, Fehderecht oder Goldene Bulle waren. Dies hat heute keinerlei Konsequenz mehr und ich frage mich jedes Mal, wenn ich vom „Unterwäscheprivileg“ an der Schlüpfer-Allee höre: Wie kann es sein, dass ein Privileg aus dem 14. Jahrhundert heute noch Relevanz hat? Wie oft musste es dazu von neuen Verwaltungen, über Dänen, Franzosen, Nationalsozialisten, bis heute in irgendeine Stadtverordnung übernommen werden? Und warum?

Erste Station: Google. Doch die Suche fördert nichts Erhellendes zu Tage. Es gibt tatsächlich noch keine Wikipedia-Seite zu mittelalterlichen Wäschereigesetzen.

Zweite Station: Die Schiffbetreiber. Die werden es schon wissen, immerhin behaupten sie es selbst, sie werden mir die Quelle schon nennen können. Doch auf meine Anfrage folgt lediglich ein hilfloses: „Leider kann auch ich im Internet nichts über das Privileg des Wäschetrocknens an der Obertrave finden.“ So weit war ich alleine auch schon. Nun steht aber immerhin schon einmal fest: Sollte jemals ein Fremdenführer gewusst haben, woher er diese Information hat, ist es inzwischen nur noch mündlich weitergereichte Folklore. Ich bin noch nicht zufrieden.

Wenn es stimmt, was bei den Touren behauptet wird, dann handelt es sich bei dem Unterwäscheprivileg um eine rechtliche Situation in Lübeck, und so wende ich mich an die Rechtsabteilung der Stadt: „Darf ich wirklich nirgends sonst in der Stadt meine Wäsche öffentlich trocknen?“ Die Rechtsabteilung erbittet sich Zeit, man sei überarbeitet und unterbesetzt. Aber nach einiger Arbeit kommt man dort zu folgender Einschätzung: Von einem besonderen Privileg für die Obertrave oder gar einem Verbot andernorts will man nichts wissen. Das Wäscheaufhängen sei wohl vielerorts erlaubt oder zumindest toleriert, unter anderem eben an der Obertrave. Das Bedürfnis danach sei mit dem Aufkommen der Wäschetrockner eben zurückgegangen und so sei öffentlich trocknende Wäsche in Städten seltener geworden. Zudem habe dies viel mit der Rolle der Frau zu tun: Da inzwischen mehr Frauen berufstätig seien und sich nicht mehr primär um den Haushalt kümmern würden, nutze man eben Technologie. Es fehle schlicht die Zeit, die Wäsche auf der Leine trocknen zu lassen.

Aber damit ist man bei der Rechtsabteilung noch lange nicht am Ende: Die gewissenhaften Mitarbeiter beschließen, für die historische Perspektive das Stadtarchiv in die Recherche mit einzubeziehen. Aber auch hier entpuppt sich die Geschichte als weniger spektakulär als die Legende: Ende des 14. Jahrhunderts war das Viertel südlich des Doms das Viertel der Stecknitzfahrer: Schifffahrer, die Salz transportierten. Sie lebten in den Häusern in den Innenhöfen (eben die, deren Gänge so breit wie ein Sarg sein müssen). Diese Häuser hatten kaum Gärten und so nutzten die Schiffer auch das Ufer, um Wäsche zu trocknen, hauptsächlich aber wohl, um ihre Kähne festzubinden. In der Hartengrube findet der aufmerksame Spaziergänger sogar heute noch einen Hinweis auf jene Zeit: An einem der Häuser prangt die Aufschrift „Altes Stecknitzfahrer Amtshaus“.

Von einem extra ausgewiesenen Unterwäscheprivileg ist nichts bekannt. Das Stadtarchiv, so teilt man mir mit, hielte es sogar für höchst unwahrscheinlich, dass eine solche Regelung zur Zeit der Hanse schriftlich fixiert wurde.

Und dort endet sie nun, die Geschichte des Unterwäscheprivilegs, das es wohl nie gab und bis heute nicht gibt. Eine schnöde Aufklärung, die kaum zur guten Anekdote taugt, wenn man mit den Verwandten bei der Stadtführung vom Dom zu den Gängen über die Schlüpfer-Allee spaziert. Schade eigentlich.

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