Bilder aus Hamburg um den Jahreswechsel: Schwarz gekleidete Autonome werfen Flaschen, zünden Barrikaden an, prügeln sich mit Polizist*innen. Ein Aufschrei in der Presse – jemand müsse diese „jungen Randalierer“ zur Vernunft bringen. Platz für Hintergrundinformationen, detaillierte Berichterstattung, kritische Meinungen – Fehlanzeige. Stattdessen werden Polizeiberichte wieder und wieder abgeschrieben. Keine neue Entwicklung in der deutschen Berichterstattung nach Demonstrationen.

Rund 7000 Menschen standen am 21. Dezember auf dem Schulterblatt im Schanzenviertel.

Rund 7000 Menschen standen am 21. Dezember auf dem Schulterblatt im Schanzenviertel.[media-credit id=28 align="aligncenter" width="645"]

Hintergründe zur Demonstration

Etwa 7000 Demonstrant*innen standen am 21. Dezember vor der Flora, nicht nur, um für den Erhalt des autonomen Kulturzentrums zu kämpfen. „Recht auf Stadt für alle!“ war der Slogan, unter dem auch für das Bleiberecht von allen Menschen und den Erhalt der ESSO-Häuser demonstriert wurde. Ein kurzer Überblick: Im Herbst 2013 hatte man in Hamburg den Eindruck, dass sich die von Olaf Scholz geführte Hamburger SPD selbst abschieben wollte. Wenige Tage nach dem Bootsunglück vor Lampedusa am 3. Oktober mit etwa 390 Toten begannen die von Innensenator Neumann angeordneten Kontrollen ausschließlich schwarzer Männer in ganz Hamburg. Sie sollten Flüchtlinge finden, die ebenfalls über Lampedusa nach Hamburg geflohen waren. Doch anstatt in die sogenannte „Illegalität“ abzutauchen, organisierten sich die Männer und kämpften friedlich für ihr Bleiberecht. Als Neumann dann eine Razzia in der Kirche plante, in der einige Flüchtlinge eine Unterkunft gefunden hatten, gingen etwa 15.000 Hamburger*innen auf die Straße.

Auch bei den ESSO-Häusern geht es um eine aktuelle politische Debatte, die sehr viele Hamburger*innen betrifft: Der extreme Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Die ESSO-Häuser gehörten zu diesem letzten bezahlbaren Wohnraum auf St. Pauli, doch der Besitzer ließ sie verfallen. Auch wenn die SPD stets versprach, es würde keinen Abriss ohne die Zusicherung einer Rückkehr zu bezahlbaren Mietpreisen geben, wussten die Bewohner*innen, warum sie sich gegen die Abrisspläne des Immobilienkonzerns, der die Häuser vor ein paar Jahren erwarb, mit Händen und Füßen wehrten. Spätabends am 14. Dezember mussten die Mieter*innen die Wohnungen wegen akuter Einsturzgefahr räumen. Auf eine Rückkehr, eine Entschädigung oder sonstige Regelungen um den Bewohner*innen in der Zukunft eine Wohnung zu garantieren, warten die Menschen bislang vergeblich.

Und dann noch die Flora: Das letzte nicht legalisierte besetzte Gebäude Hamburgs! 2001 kaufte Herr Klausmartin Kretschmer die Immobilie für einen symbolischen Preis von 370.000 Euro und möchte sie nun räumen lassen, um sie „lukrativ zu entwickeln“. Die Demo sollte auch zeigen, was passieren würde, wenn tatsächlich jemand versuchen sollte, die Flora zu räumen und wie groß die solidarische Unterstützung des Projektes ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die breite Mobilisation und die große Unterstützung. Um sich mit Polizist*innen zu prügeln, muss man bekanntlich nur zu einem Fußballspiel seiner Wahl fahren, aber nicht den (eventuell) weiten Weg nach Hamburg auf sich nehmen. Viele Demonstrant*innen kamen aber nach Hamburg, um ihre Wut über politische Entwicklungen in Deutschland auf die Straße zu tragen und der SPD ein lautes „Wem gehört die Stadt?“ entgegenzurufen, nicht um sich mit Polizist*innen abzugeben. Rund 7000 Menschen standen deshalb am 21. Dezember auf dem Schulterblatt im Schanzenviertel: Manche schwarz gekleidet, manche nicht. Wie die Polizei auf die Zahl der „4000 gewaltbereiten Demonstranten“ kommt, ein Rätsel. Wurden einfach alle Menschen mit schwarzer Kleidung gezählt? Wurden alle Menschen im sogenannten „schwarzen Block“ vom „Kommunikationsteam“ der Polizei befragt, ob sie gewaltbereit seien? Und dann ging die Demo los… und war schon beendet.

Nach ein paar Redebeiträgen sollte es dann losgehen. Noch war die Situation so ruhig, dass selbst Familien nicht sehr weit von der ersten Reihe entfernt standen, trotz des schon positionierten Wasserwerfers. Niemand dachte, dass die Situation schon auf den ersten zehn Metern eskalieren würde. Als die Demo sich in Bewegung setzte, wurden Bengalos gezündet. Das mag manchen Menschen nicht gefallen, ist aber für Andere als Stimmungsmachen nicht von Demonstrationen wegzudenken. In Frankreich ist diese Art von Pyrotechnik zum Beispiel erlaubt und auch hierzulande schmeißt in einer solchen Situation die Polizei normalerweise nicht gleich ihre Wasserwerfer an. Doch an diesem Tag wurde die Demonstration daraufhin mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen und die Situation eskalierte. Erschrockene Demonstrant*innen retteten sich in Geschäfte und beobachteten durch die Ladenfenster die Straßenschlacht. Die meisten Menschen versuchten, irgendwie weiter nach hinten, weg von den Wasserwerfern und dem Tränengas zu kommen und bahnten sich den Weg in eine Seitenstraße. Diese wurde dann an beiden Enden von Polizeiketten gesperrt und so fanden sich hunderte Demonstrant*innen mehr als dicht gedrängt in einem Polizeikessel wieder, in dem es fast zur Massenpanik gekommen wäre.

Die Flora: Das letzte nicht legalisierte besetzte Gebäude Hamburgs.

Die Flora: Das letzte nicht legalisierte besetzte Gebäude Hamburgs.[media-credit name="Maren Janotta" align="aligncenter" width="400"]

Zum Verständnis dieser Eskalation, sei erwähnt, dass es bestimmt ein paar gewaltbereite Demonstrant*innen gab. Auch unter den Beamt*innen gab es bestimmt Menschen, die Gewalt wollten. Jede*r, der oder die schon ein paar Mal auf Demonstrationen war und diese Polizeigewalt erlebt hat, weiß das. Es gibt sogar Einsatzhundertschaften, die eine traurige Berühmtheit erlangt haben und für ihre Gewalt bekannt sind. Und wenn dann auch noch Menschen wie Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, immer wieder Demonstrant*innen als „Chaoten“ diffamieren, hilft das nicht, die Beziehung zwischen beiden Parteien zu verbessern. Das hier soll keine Hasstirade auf die Polizei sein, nur eine Feststellung, die sonst kaum in den Medien erwähnt wird.

Die massive Polizeigewalt an diesem Tag war nicht die einzig denkbare Lösung. Die Aufgabe der Polizei wäre es gewesen, die Straße für die Demonstration begehbar zu machen und für die Sicherheit von allen zu sorgen. Doch der Aufgabenbereich der Polizei scheint in Hamburg noch weiter aus dem Ruder zu laufen. Eigentlich haben wir eine Gewaltentrennung und die Polizei als Exekutive soll bestehende Gesetze sichern, unter anderen das Demonstrationsrecht. Was sie gerade in Hamburg tut und auf Grund des Polizeigesetzes von 1991 auch tun darf, fällt aber schon in den gesetzgebenden Bereich, also die Legislative. So hat die Polizei im Januar ein Gefahrengebiet eingerichtet, nicht legitimiert durch gewählte Vertreter*innen, in dem sie verdachtsunabhängig Menschen kontrollieren und in Gewahrsam nehmen darf. Auch nach dessen Aufhebung sind anhaltende Proteste gegen diese Maßnahmen und das Polizeigesetz die Folge.

Einen Tag nach der Demonstration las ich in der Zeitung: „Die Regierung droht mit hartem ‘Durchgreifen’, die Demonstranten wehren sich mit ihren Mitteln. Einige Protestierende beschießen die Sicherheitskräfte mit Feuerwerk und entzünden Barrikaden.“ Der Protest wurde von den Medien als heldenhafter Widerstand gefeiert – es ging um Kiew.

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