StudentenPACK: Die Lübecker AIDS-Hilfe gibt es seit 1986. Was war damals das Angebot und was hat sich daran verändert?

Hartmut Evermann Es haben sich damals mehrere Leute zusammengetan, überwiegend Schwule, die gesehen haben, dass sie hängen gelassen wurden. Die Emanzipationsbewegung der Schwulen und Lesben hatte gerade erst begonnen und nun drohte eine neue Diskriminierungswelle. AIDS wurde dann ja auch Schwulenpest genannt, selbst der offizielle Name war GRID, Gay-Related Infectious Disease. Manche dachten am Anfang wirklich, das betrifft nur Schwule, was aber auch zeigt wie manche Leute denken. Die Wissenschaft hat dann sehr schnell rausgefunden, dass es nicht nur Schwule betrifft. Nachdem man wusste, dass das sexuell übertragen wird und dass Kondome schützen, hatte die AIDS-Hilfe dann die Aufgabe, darüber zu informieren.

Es ging also auf der einen Seite darum, die Community zu informieren, und auf der anderen Seite natürlich auch darum, die Leute, die krank waren, die ausgegrenzt wurden, zu unterstützen, für sie da zu sein und sie zu begleiten, bis sie sterben.

PACK: Was hat sich heute verändert?

Hartmut: Es ist immer noch Beratung, Betreuung, Unterstützung von Menschen mit HIV und AIDS und nach wie vor zielgruppenspezifische Prävention, das heißt die Hauptrisikogruppen von HIV und AIDS über die Risiken und die Schutzmöglichkeiten aufzuklären. Der Teil der Sterbebegleitung ist inzwischen weggefallen und wurde zu einer Lebensbegleitung. Früher war es ganz oft so, dass die Positiven oder die an AIDS Erkrankten von ihren Familien oder ihren Partnern ausgestoßen worden sind. Freiwillige, sogenannte Buddies, ermöglichten den Erkrankten noch ein lebenswürdiges Leben, solange sie noch zu leben hatten. Jetzt entwickeln sich neue Formen der Buddy-Arbeit. Diese Arbeit wird sicherlich auch anspruchsvoller. Früher ging es darum, für den Menschen da zu sein, mit ihm einen Kaffee trinken, mit ihm irgendwo hingehen. Die Probleme sind jetzt vielfältiger und so wird die Buddy-Arbeit anspruchsvoller für die Ehrenamtlichen werden.

AIDS-Hilfe war auch immer Selbsthilfe, sie ist aus der Selbsthilfe entstanden. Sie war ursprünglich rein ehrenamtlich. Der Staat war ohnmächtig, als AIDS entdeckt wurde, und die Menschen hier gestorben sind. Da gab es dann die Hardliner, die meinten: alle kasernieren. Auch viele Politiker haben genau das gedacht! Gott sei Dank hat die damalige Gesundheitsministerin Rita Süssmuth (CDU), sehr besonnen reagiert und auf die Selbsthilfe gehört. Ohne Frau Süssmuth hätten wir heute wahrscheinlich ganz andere Verhältnisse und Infektionszahlen.

PACK: Was konkret heißt eigentlich Beratung und Betreuung?

Hartmut: Individuelle Beratung ist ein ganz großer Teil unserer Arbeit. Der Hintergrund ist ganz einfach: Menschen, die mit HIV infiziert sind, sind die Menschen, die das Virus weitertragen können. In der Regel ist das auch so, dass die Menschen andere Menschen schützen wollen, aber wenn der Kopf voll ist mit Schulden, Familienproblemen, Druck auf der Arbeit oder ich-weiß-nicht-was hat Mancher einfach nicht die Kraft, in einem bestimmten Setting darauf zu bestehen, Sex nur mit Kondom zu haben. Wenn wir da helfen, dass sie den Kopf freikriegen, können die sich auch mehr auf ihre eigene Gesundheit und die Gesundheit ihrer Sexpartner konzentrieren. Gesundheit ist nicht allein die Abwesenheit von Krankheit. Dazu gehört mehr!

Wir begleiten die Menschen ein Stück ihres Lebens, helfen ihnen auch mit HIV ein menschwürdiges Leben ohne Ausgrenzung und Stigmatisierung zu leben. Dazu kommen Aufklärung und Information: Ich pflege immer zu sagen: Der Patient hat einen Feind im Körper und dieser Feind versucht, den Körper tot zu machen. Um die Überhand über diesen Feind, den man noch nicht besiegen kann, zu behalten, muss man diesen Feind und seinen eigenen Körper sehr gut kennen. Das ist unsere Aufgabe. Dafür organisieren wir zum Beispiel Vorträge, die wir teilweise auch für Interessierte öffnen. Unsere Reihe „Positiv Begegnen“ für Menschen mit HIV und AIDS, bietet Raum zum Austausch und zum Lernen über HIV. Im Januar bieten wir zum Beispiel einen zweistündigen medizinischen Workshop zum Thema HIV und Lunge, zu dem wir einen Experten eingeladen haben. Dazu gibt es Gesprächskreise und Gesprächsabende mit Betroffenen. Da geht es dann um ganz viele, auch sehr intime Themen, zum Beispiel über gelebte Sexualität mit HIV. Das ist ein ganz großes Thema, weil die Positiven natürlich auch Angst haben, andere anzustecken. Man will sich beim Sex auch mal fallen lassen können, den Kopf ausschalten. Vielen gelingt das nicht, sie haben Angst, ihren Sexpartner anzustecken. Das sind so Themen über die in kleinen Gesprächskreisen gesprochen wird.

PACK: Und die Prävention hat sich über die Jahre sicher auch verändert, oder?

Hartmut: Wir machen inzwischen nicht mehr nur zielgruppenspezifische Prävention. Aber der Schwerpunkt ist weiterhin Prävention in der schwulen Szene . Wir wissen inzwischen, dass die meisten Infektionen passieren, wenn die Leute noch gar nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind. Über den Test und den Benefiz seinen Serostatus zu kennen zu informieren gehört heute ganz selbstverständlich zu unseren Aufgaben. Etwas, was sich verändert hat, denn früher haben wir den Leuten gesagt, sie sollen sich nicht testen lassen. Es gab keinen Benefiz, nur Nachteile: Ausgrenzung, Stigmatisierung… Aber Ausgrenzung und Stigmatisierung finden nach wie vor in allen sozialen Kreisen statt. Es fängt schon damit an, dass Menschen mit HIV nach wie vor bestimmte Versicherungen nicht abschließen können. Auch die Reisefreiheit ist eingeschränkt, in vielen Ländern darf man mit HIV nicht einreisen. Das kann auch schon mal zu einem Knick in der beruflichen Karriere führen! Aber der Vorteil, wenn man rechtzeitig um seine Infektion weiß und rechtzeitig mit der Therapie beginnen kann, ist heute so groß, dass wir trotz der Nachteile sagen, dass man sich auf jeden Fall testen lassen sollte.

Neben der Beratung und Betreuung und der Prävention ist der dritte Bereich das Fundraising. Sicherstellen, dass wir unsere Projekte auch finanziert bekommen, hat wirklich überhandgenommen. Als ich angefangen habe vor zwölf Jahren, da war das überhaupt kein Thema gewesen, da ist das Geld gekommen, da mussten wir uns keine Gedanken machen. Das hat sich verändert. Wir müssen also wirklich sehen, dass wir jährlich 15.000 bis 20.000 Euro selbst erwirtschaften , da müssen wir ganz viel Arbeit und Zeit reinstecken.

PACK: Woran liegt das? Denkt keiner mehr, dass die AIDS-Hilfe nötig ist?

Hartmut: Das kann sein, dass die Notwendigkeit nicht mehr gesehen wird. Das Thema ist nicht mehr so im Bewusstsein. Früher haben wir zum Beispiel viel Geld vom Gericht bekommen. Wenn Leute verurteilt wurden hieß es dann immer, du musst eine Strafe an die AIDS-Hilfe zahlen. Das ist vorbei, da kommt seit Jahren nichts mehr. Wir haben auch schon mehrmals bei den Richtern Werbung in eigener Sache gemacht, daran erinnert, dass unsere Arbeit nach wie vor notwendig ist, aber das hat nichts gebracht.

Wir bekommen vom Land 80.000 Euro, allerdings in einem Vertrag, in dem es heißt, dass wir zehn Prozent dieser Summe dazu selbst erwirtschaften müssen, und von der Stadt kriegen wir ungefähr 42.000 Euro. Der Zuschuss vom Land wurde in den zwölf Jahren, die ich hier arbeite, einmal gekürzt – zuvor haben wir 88.000 € erhalten – aber er wurde niemals erhöht. In Anbetracht, dass alles teurer wird, kommen wir damit nicht mehr aus und müssen eben über Spenden Geld erwirtschaften, damit wir die Arbeit in der gewohnten und bekannten Qualität fortführen können. Und – da klopfe ich mir jetzt mal selbst auf die Schulter – wir machen hier in Lübeck ‘ne richtig gute Arbeit. Wir sind unglaublich gut vernetzwerkt, und dadurch auch sehr effektiv in der Betreuung und Beratung. Für so eine kleine AIDS-Hilfe wie wir leisten wir richtig viel.

PACK: Am 11. Dezember macht ihr einen Vortrag mit dem Titel „HIV/AIDS – Heilung in Sicht?“. Kann es sein, dass die Spenden ausbleiben, weil viele denken, AIDS sei geheilt?

Hartmut: Ich glaube, das denken die Leute nicht. Aber es ist wohl in den Köpfen drin, dass man jetzt was machen kann, und es deswegen ja kein Problem mehr ist. Die denken, man nimmt da jetzt halt ‘ne Pille und gut ist.

PACK: Ist es denn so?

Hartmut: So ist es natürlich nicht. Im Vergleich zu den ersten Therapien, der antiretroviralen Therapie, hat die Medizin und die Forschung Unglaubliches geleistet in den letzten 30 Jahren. Aber natürlich haben die Medikamente noch Nebenwirkungen, die Kurzzeitnebenwirkungen wie Übelkeit, Schwindel, Erbrechen, Hautausschläge, Albträume, Nachtschweiß und sehr häufig Durchfall, sind bekannt. Die gehen bei den meisten auch wieder weg. Über die Langzeitnebenwirkungen der Therapie ist natürlich noch wenig bekannt, die neusten Medikamente sind ja nur wenige Jahre auf dem Markt. Als die ersten Therapien rauskamen, mussten die Menschen 25 bis 30 Tabletten am Tag schlucken, inzwischen sind es im Schnitt irgendwas zwischen vier und acht.

PACK: Und welche Art von Leben ermöglicht diese Therapie dann den Betroffenen?

Hartmut: Medizinisch gesehen ein normales Leben mit einer annähernd normalen Lebenserwartung. Man entdeckt jetzt gerade, dass altersbedingte Krankheiten wie Krebs oder Demenz bei Menschen mit HIV und AIDS früher auftreten. Woran das liegt, ob das mit der Therapie oder mit dem Virus zu tun hat, weiß man noch nicht. Aber wer rechtzeitig mit der Therapie beginnt, kann annähernd so alt werden wie der nichtinfizierte. Medizinisch ist das ein unglaublicher Fortschritt, gesellschaftlich ist das noch etwas komplizierter. Diskriminierung findet noch statt. Leider findet man diese Diskriminierung ganz intensiv im medizinischen Bereich, dort wo man eigentlich aufgeklärte Menschen erwarten würde. Oftmals tatsächlich durch Unwissenheit, aber auch durch Nicht-Nachdenken. Das fängt an mit Erlebnissen beim Zahnarzt: wenn dem HIV-positiven Patienten gesagt wird: „Wenn, dann können wir Sie nur als letzten Patienten des Tages behandeln, weil das Zimmer danach ordentlich desinfiziert werden muss.“ Da fragt man sich natürlich, wie desinfiziert der denn sonst den Tag über? Was ist, wenn der Zahnarzt einen Patienten mit Hepatitis-C Infektion hatt? Was ist, wenn jemand gar nichts von seiner HIV-Infektion weiß? Zu so einem Zahnarzt gehe ich lieber nicht. Oder wenn eine Krankenschwester sagt: „Packen Sie Ihre AIDS-Binde nicht zu dem normalen Verbandsabfall, sondern entsorgen Sie die extra.“ Und das auch noch vor anderen Patienten.

Vor zwei Jahren gab es an der Uniklinik in Lübeck einen Vorfall, wo eine positive Mutter nach der Geburt ihr Kind nicht in den Arm nehmen durfte, wegen der Infektionsgefahr für das Kind. Die AIDS Hilfe Lübeck ist ja nicht nur für Lübeck zuständig, sondern für die umliegenden Kreise, und irgendwo in diesem Einzugsbereich gibt es einen Krankenpfleger, der auf der Arbeit zwangsgetestet wurde. Dessen Betriebsarzt hat die Schweigepflicht gebrochen und das positive Testergebnis dem Arbeitgeber gemeldet und nun wird dieser Pfleger unglaublich gemobbt und ist bereits degradiert worden. Er darf nun nicht mehr in den OP. Das sind so Sachen, die ich nicht nachvollziehen kann und die aus Unwissenheit, aus Dummheit, aus Unaufgeklärtheit resultieren.

PACK: Das Haus, in dem wir sitzen, hat Geschichte oder?

Hartmut: Das Haus gehörte Wolfgang Ebeling, einem Mann, der 1987 an den Folgen von AIDS gestorben ist, und er war einer der ersten in Lübeck, den die Lübecker AIDS-Hilfe begleitet hat. Der hat dann einen Teil dieses Hauses der AIDS-Hilfe vererbt. Andere Teile haben Familienmitglieder bekommen. Die haben das aber alles auf die AIDS-Hilfe überschrieben. 1988 sind wir dann hier eingezogen. Es ist ein kleines Kuschelhaus aber es ist sehr eng, es ist nicht barrierefrei und eigentlich als Beratungshaus nicht gut geeignet. Wir haben in unserem Etat kein Geld für Miete. Dieses Haus gehört der AIDS-Hilfe. Wir würden etwas anderes kaufen, aber die Räumlichkeiten, wie wir sie uns wünschen – mit anonymem Zugang, barrierefrei auf einer Etage, die gibt es nicht zu kaufen. Wir haben sämtliche Makler Lübecks aktiviert, aber so eine Etage in irgendeinem Haus, in dem vielleicht auch Arztpraxen oder so sind, bekommt man nur zu mieten.

Das Büro im ersten Stock des Ebeling-Hauses, von hier aus koordinieren sie die Arbeit der LAH.

Das Büro im ersten Stock des Ebeling-Hauses, von hier aus wird die Arbeit des LAH koordiniert. [media-credit name="Lukas Ruge" align="aligncenter" width="645"] 

PACK: Am 1. Dezember ist Welt-AIDS-Tag. Das ist für euch sicher der größte, wichtigste Tag des Jahres, oder?

Hartmut: Ja, auf jeden Fall. Am 1. Dezember sind wir mehr in der Öffentlichkeit. Wenn im Freundeskreis jemand schwanger ist, sieht man plötzlich überall schwangere Frauen. Es gibt aber natürlich immer gleich viele schwangere Frauen. So ähnlich ist das bei uns auch, wir machen eigentlich immer gleich viel. Wir sind auch eigentlich regelmäßig in den Medien. Was wir machen, fällt einfach um den Welt-AIDS-Tag mehr auf. Dann kommen alle her und die Leute lesen es auch eher. Für unsere Arbeit ist aber jeder Tag ein AIDS-Tag.

PACK: Also kein besonderer Stress Ende November?

Hartmut: Oh doch! Wir machen zum Welt-AIDS-Tag (WAT) immer etwas hier im Haus, einen Gedenkmarsch und anschließend eine Andacht und ansonsten lassen wir das auf uns zukommen. Wir bekommen jedes Jahr viele Anfragen von Einzelpersonen oder Institutionen, die zum WAT Aktionen durchführen wollen. Wir haben Stände im Zentralklinikum und in der Mensa in Lübeck, gemeinsam mit der Fachschaft. Es gibt Vorträge und Workshops, an der Uni, aber auch andernorts. In diesem Jahr machen zum Beispiel das Theaterschiff und die Szenekneipe Chapeau Claque eine Aktion. In diesem Jahr haben wir auch und relativ viele Anfragen von der Presse. Der Movember endet im Prinzip ja auch mit dem Welt-AIDS-Tag.

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