In Halle formt sich eine Protestwelle.

[media-credit name="Richard Bohn" align="aligncenter" width="645"] In Halle formt sich eine Protestwelle.

Die Slogans erscheinen irgendwie bekannt „Für die Erhaltung der Universitätsmedizin“, „Das Land braucht beide Medizinzentren.“ Es ist die Rede von den „unmittelbaren Auswirkungen der Schließung der Fakultät auf die Stadt und das Umland“, doch diesmal hört man diese Stimmen nicht aus Lübeck, sondern aus Halle. Unter dem Motto „Halle bleibt“ kämpfen dort Studenten zusammen mit Professoren und anderen Mitarbeitern der Klinik und der Universität um den Erhalt von Halle als einen von zwei Standorten, die ein Medizinstudium anbieten. Wer als Lübecker diese frühen Tage des Protests mitverfolgt, glaubt sich in einer bizarren Wiederaufführung eines bekannten Theaterstücks.

Der Fachschaftsrat Medizin

[media-credit name="Fachschaftsrat Medizin" align="aligncenter" width="645"] Der Fachschaftsrat Medizin organisiert in Halle den Protest.

Alternativloses Sparen

Der erste Akt beginnt an einem Dienstag mit dem Bekanntwerden der Überlegung des Finanzministeriums, aus finanziellen Gründen lediglich einen der beiden Medizinstandorte – der andere ist die Universität in der Landeshauptstadt selbst – zu erhalten. Dementsprechende Gerüchte sind am 23. April aus dem Umkreis der CDU-geführten Landesregierung unter Ministerpräsident Reiner Haseloff zu hören. Grund ist dabei insbesondere ein enormer Investitionsbedarf in das Klinikum, von fast einer halben Milliarde ist die Rede. „Ein steuerschwaches Land der Größe Sachsen-Anhalts […] kann sich nicht zwei medizinische Fakultäten und zwei Universitätskliniken leisten“, heißt es in einem internen Papier, welches der Mitteldeutschen Zeitung vorliegt.

Am Dienstag, dem 25. Mai 2010, erreichte vor der AStA-Sitzung die Studierenden der Uni Lübeck die Nachricht, dass die Sparliste der Haushaltsstrukturkommission der schwarz-gelben Koalition bekannt geworden war. Während Schlimmes für das Uniklinikum befürchtet wurde, traf der Inhalt nun Professoren und Studenten wie ein Hammer. „Das Medizinstudium wird auf Grund der begrenzten Ressourcen bei der Förderung exzellenter Forschung und Lehre nach Kiel verlagert. […] Ab dem Wintersemester 2011/2012 werden deshalb keine neuen Studienanfänger für Medizin in Lübeck immatrikuliert“, heißt es in dem Papier, welches dem NDR vorla.

„Die Sparpläne standen schon seit Jahren im Raum“, sagt Vigo Zühlke vom Fachschaftsrat Medizin der Uni Halle, doch nachdem die Wissenschafts- und Wirtschaftsministerin Birgitta Wolff (CDU) wiederholt kritisiert hatte, dass der Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) bei seinen Sparplänen Hochschulen auch mit in die Pflicht nehmen wolle, wurde sie kurzerhand gefeuert. Plötzlich wurde die Gefahr für Halle konkreter. Es heißt, der Hochschuletat sei bis 2025 um 50 Millionen Euro zu kürzen.

Die Lübecker Uni stand 2010 nicht zum ersten Mal vor ihrem Aus. Schon 2005 mussten die Studierenden auf die Straße gehen, um gegen die Zusammenlegung der Universitäten in Schleswig-Holstein zu demonstrieren. Damals gegen Pläne aus dem Ministerium von Wissenschaftsminister Austermann. Damals entstand der Kampfspruch „Lübeck kämpft für seine Uni“, der nun wieder an Aktualität gewinnt. Durch die Kürzungen in Lübeck sollen bis 2020 bis zu 24 Millionen Euro eingespart werden.

In Halle ist man von dieser Idee aus der nördlichen Landeshauptstadt naturgemäß überhaupt nicht überzeugt: Der Standort sei ein erheblicher wirtschaftlicher Faktor, immerhin handelt es sich um über 4000 Angestellte des Klinikums, die direkt betroffen wären. Zudem würden viele der Medizinstudenten nach ihrer Ausbildung als Ärzte in der Stadt und der Umgebung bleiben, ein wichtiges Argument für ein Bundesland, dem Ärzte fehlen. Und während der Medizinstudiengang in Halle nicht als besonders gut galt, so wird doch der zahnmedizinische Studiengang als einer der besten in Deutschland angesehen. Auch er würde nicht überleben. Dies erscheint mit dem Versprechen im Koalitionsvertrag, in dem man von starken Hochschulen gesprochen hatte, nicht vereinbar.

Studenten, Präsidium, ganz Lübeck stand im Mai 2010 nach den Nachrichten aus der nördlichen Landeshauptstadt unter Schock. In der AStA-Sitzung wurde bis tief in die Nacht diskutiert, wie vorgegangen werden solle. Dass die Sparpläne das Ende für die Universität bedeuten würden, war allen schnell bewusst. Außerdem war die Lübecker Uni mit immerhin über 5000 Beschäftigten in der Region, ganz zu schweigen von den mit der Uni kooperierenden und stark von ihr abhängigen Firmen, ein wichtiger Arbeitgeber. Dazu kam der Ärztemangel in Schleswig-Holstein, der ohne die ausgezeichnete Ausbildung in Lübeck schlimmer werden würde. Auch Uni-Präsident Dominiak wurde von der Nachricht überrollt. Zuvor hatte er sich immer auf den Koalitionsvertrag in Schleswig-Holstein berufen, der ausdrücklich die Stärkung der beiden Hochschulstandorte Kiel und Lübeck in Aussicht gestellt hatte.

Die Nachricht kaum verdaut, tritt die Studierendenvertretung auf die Bühne. In der eilig einberufenen Vollversammlung am Mittwoch, die aus allen Nähten platzt, wird eine Resolution zum Erhalt beschlossen, in welcher es heißt: Man erkenne an, „dass der Haushalt des Landes Sachsen-Anhalt saniert werden muss. Die Politikerinnen und Politiker tragen jedoch die Verantwortung dafür, wenn selbst ihre Kinder und Eltern in Zukunft nicht mehr ausreichend medizinisch versorgt werden können.“ Es sei nicht zu verstehen, „dass eine Universität, die von Friedrich dem Weisen gegründet wurde, nun vom Finanzministerium geschlossen wird“. „Wir kämpfen nicht nur für die medizinische Fakultät, sondern für den Hochschulstandort Halle, mit allen dazugehörigen Institutionen“, betohnt Vigo Zühlke. In nur zwei Stunden unterschreiben fast 2000 Personen eine Petition mit entsprechendem Inhalt.

Am Mittwoch, dem 26. Mai 2010, konnte der Lübecker Hörsaal V1 die Vollversammlung nicht beherbergen. Zu viele wollten teilnehmen, eine Verlegung in den großen Saal im Audimax war nötig, reichte aber auch nicht aus. Einstimming beschloss der Senat in der Versammlung eine Resolution, in der es heißt „Der bereits entstandene Imageschaden für die Universität ist immens und kann nur durch ein deutliches Signal der Landesregierung für den Beibehalt des Medizinstudiums an der Universität zu Lübeck verringert werden.“ und weiter „Darüber hinaus gefährdet die Landesregierung mit dieser Maßnahme sämtliche Forschungsprojekte an unserer Universität“

Große Solidarität

In der Lokalpolitik in Halle fallen derweil die Grenzen zwischen den Parteien, einstimmig verurteilt der Stadtrat den Beschluss und unterstreicht die Bedeutung der Uniklink und der Universitätsmedizin. „Wenn der Fortbestand der Uni bedroht ist, dann ist auch die Zukunftsfähigkeit der Stadt bedroht“, sagt Dietmar Weihrich (Grüne). Auch Bernhard Bönisch (CDU) unterstützt die Resolution. Dies ist besonders brisant für die Landesregierung, da er auch Abgeordneter im Landtag ist. Unterstützung kommt auch von den Gewerkschaften, am Donnerstag erklärte DGB-Regionalchef Johannes Krause der Mitteldeutschen Zeitung, die Medizinische Fakultät dürfe „nicht ausgeschaltet werden“.

Im Rathaus und in der Bürgerschaft von Lübeck herrscht Einigkeit über alle Parteigrenzen. Wer die Medizin in Lübeck gefährdet gefährdet die Universität. Alle Mitglieder der Bürgerschaft stellen sich gegen den Sparbeschluss verkündet Bürgermeister Saxe nach der Abstimmung den jubelden Studenten auf dem Rathausplatz, die ganze Stadt steht „wie eine Frau oder ein Mann hinter der Universität“. Auch Gewerkschaften solidarisieren sich mit den Studierenden und Mitarbeitern.

Die protestierenden Studenten erhalten derweil Solidarität aus ganz Deutschland: „Was in Lübeck falsch war, wird in Halle nicht richtiger. Wir solidarisieren uns mit Studierenden und Mitarbeiter_innen!“, lässt man aus dem AStA der Uni Lübeck erklären. „Davon, dass in den Uniklinika der Putz von der Wand bröckelt und die Finanzpolitiker es nun so darstellen, als ob der Sanierungsstau über sie gekommen sei wie eine göttliche Strafe, können wir auch in Schleswig-Holstein ein Lied singen. Wer jahrelang nichts in Bausubstanz und Ausstattung investiert, der kriegt eben am Ende eine saftige Rechnung serviert. Dann den Unschuldsengel zu mimen und sich durch Privatisierung aus der Verantwortung für die öffentliche Gesundheitsversorgung zu stehlen, ist höchst unmoralisch“. Und trotz unbestritten knapper Kassen im Bundesland wendet man sich in Halle nicht gegen die Kommilitonen in Magdeburg. Der Protest habe es zum Ziel, beide Standorte zu erhalten. Auch an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg formt sich derweil unter dem Motto „Otto studiert Medizin“ eine eigene Protestbewegung.

Schon in den ersten Tagen im Sommer 2010 trafen Solidaritätsbekundungen ein. Der AStA der Uni Hamburg schrieb „Den Studiengang Medizin zu streichen halten wir bildungspolitisch für eine fatale Fehlentscheidung.“ Und trotz unbestritten knapper Kassen im Bundesland trafen auch von der Studierendenvertretung aus aus Kiel Solidaritätsbekundungen ein. Gemeinsam plante man, den Sparplänen entgegenzutreten.

Im Landtag in Magdeburg legt am Donnerstag Hartmut Möllring seinen Amtseid ab. Er ist nun Wissenschafts- und Wirtschaftminister und unterstützt uneingeschränkt die Sparpläne. Ministerpräsident Haseloff nutzte den Tag, um dem MDR mitzuteilen, der Sparkurs sei „alternativlos“. In Halle und Magdeburg evaluiert ohnehin derzeit der Wissenschaftsrat die Kliniken und Fakultäten, sein Gutachten ist für Halle besonders wichtig: „2009 gab es eine Vor-Ort-Begehung durch den Wissenschaftsrat, diese fiel sehr schlecht aus“, erklärt Vigo Zühlke. „Die Lehre wurde daraufhin komplett umgestellt, es wurde ein neues Curriculum eingeführt, zudem wurde ein Skillslab integriert, welches momentan zu einem der größten Deutschlands gehört. Am 17. und 18. April erfolgte ein erneuter Besuch des Wissenschaftsrates.“ Nun sollen im Juli die neuen Ergebnisse vorgelegt werden, ob sich Halle dabei deutlich verbessert, könnte über die Zukunft der medizinischen Fakultät entscheiden.

Im Landtag in Kiel zeigte man sich wenig beeindruckt. Ministerpräsident Carstensen, der in den kommenden Wochen des Sommers 2010 das Sparpaket wiederholt als „alternativlos“ bezeichnen wird, knüpft sein politisches Schicksal daran, dass die Koalition dem Sparpaket unverändert zustimmen wird. Noch standen die Mitglieder seiner Koalition, die nur eine Stimme Mehrheit im Landtag hat, hinter dem Sparpaket.

Samstag treffen sich in Halle Unterstützer aus verschiedensten Bereichen sowie Studierende verschiedener Hochschulen und gründen ein landesweites Bündnis. Das „Hochschulbündnis Sachsen-Anhalt“ setzt sich zum Ziel, die Sparwut in Sachen Bildung und Forschung der Landesregierung überall anzugreifen. Sollte die Landesregierung nicht einlenken, überlegt das Bündnis, die Politik mit einen Volksentscheid in die Schranken zu weisen. Am Montag treffen dann der neue Wissenschaftsminister und die Hochschulrektoren zusammen, doch die auf der Pressekonferenz präsentierten Ergebnisse sind ernüchternd: Einig sei man sich nur darüber, dass man sich nicht einig sei, sagt der Minister. Zu diesem Zeitpunkt hat die erst am Mittwoch aufgelegte Petition bereits 16.000 Unterzeichner.

Am Samstag, dem 29. Mai 2010, trafen sich in Kappeln an der Schlei die Vertreter aus AStA und anderen Gruppen der Uni, zusammen mit Vertretern der Fachhochschule und Vertretern aus Kiel. Sie begannen mit der Planung von Aktionen im ganzen Land. Es ging darum, sich zu organisieren und einen Arbeitsplan aufzustellen. Hauptaugenmerk lag auf einer geplanten Demo in der Landeshauptstadt im nächsten Monat. Am 1. Juni folgte das Treffen mit Gewerkschaftlern, die an der Demonstration ebenso teilnehmen wollten wie Mitarbeiter des Klinikums. In zahlreichen Protestaktionen kämpften die Studenten und Mitarbeiter in den folgenden Tagen gegen den Sparkurs der Regierung. Eine in diesen Tagen eingeleitete Unterschriftenaktion wird am 13. Juli in Kiel an den Ministerpräsidenten übergeben, 130.344 Menschen haben unterschrieben.

Auf die Straße

Die Spieler stehen auf ihren Positionen, die Ausgangslage ist klar. In einer Serie nennt man das wohl ein Cold Open, Zeit für den Vorspann, der zweite Akt kann beginnen: Am Dienstag, dem 30. April, findet in Halle die erste große Demonstration gegen die Sparpläne der Landesregierung statt. Um 15:00 Uhr treffen sich die Studierenden am Stadtpark um beginnen ihren Marsch zum Marktplatz, wo dann eine Kundgebung stattfindet. Viele tausend, die Presse spricht von 7000, Menschen kommen, nur eine Woche nach Bekanntwerden der Sparbeschlüsse, auf die Straße. Damit ist es eine der größten Demos in Sachsen-Anhalts seit der Wende. Im Demonstrationszug sind, wie die Mitteldeutsche Zeitung dokumentiert, nicht nur Studenten: Schüler, die um ihren zukünftigen Studienplatz bangen, und Hallenser, die sich dem Klinikum und der Universität verbunden fühlen, hat es auf die Straße getrieben. Auf dem Marktplatz ließt Anne Voß, Hauptrednerin des neu gegründeten Hochschulbündnisses, in Anwesenheit von Hartmut Möllring aus dem Koalitionsvertrag. Möllring selbst wird lange ausgebuht, bis er zu seiner kurzen Rede ansetzen kann. Berichte in der Tagespresse bleiben weitgehend aus, ein Demonstrant [über Twitter]: „Hab ich was verpasst, hat die @tagesschau wirklich nicht über #hallebleibt #lsableibt berichtet?“

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30. April 2013: In Halle demonstrieren 7.000 gegen die Schließung der medizinischen Fakultät.

Richard Bohn

2010 dauert es einige Zeit bis die erste große Demo stattfindet. Am 16. Juni 2010 laufen 14.000 Menschen aus Lübeck, Kiel und dem ganzen Bundesland durch die Landeshauptstadt vom Bahnhof zum Landtag. Die größte Demo in der Geschichte der Landeshauptstadt. Die Demo begann um 15:00 Uhr und endete mit einer Kundgebung vor dem Landeshaus. Zur Überraschung vieler waren Wissenschaftsminister de Jager und andere Mitglieder von Koalition und Opposition, darunter auch die sechs Mitglieder der Haushaltsstrukturkommission, freiwillig vor dem Parlament erschienen, um die Reden von Studierendenvertretern, Professoren und Ärzten anzuhören. Einen Bericht in der Tagesschau gab es nicht.

16. Juni 2010: In Kiel demonstrieren 14.000 gegen die Schließung der medizinischen Fakultät.

 16. Juni 2010: In Kiel demonstrieren 14.000 gegen die Schließung der medizinischen Fakultät.

Thorsten Biet

Am 1. Mai machten die Gewerkschaften auch den Fortbestand der Medizinerausbildung in Halle zum Thema der jährlichen Kundgebungen. Weitere Aktionen und Demos in Halle werden folgen. Eins kann den Studenten in Halle Mut machen: Als das Stück in Lübeck aufgeführt wurde, gab es ein Happy End. Am 8. Juli 2010 knickte in Schleswig-Holstein die Landesregierung ein, die Medizinerausbildung in Lübeck war gerettet.

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