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„Wie kommt man denn zur alten Seefahrtschule?“, war häufig die Frage der Erstsemester, wenn in den Mathematik-Vorlesungen die Übungsgruppen bekannt gegeben wurden, denn die meisten Übungen und vertiefenden mathematischen Veranstaltungen fanden bis zum Wintersemester 2010/2011 dort statt. Bereits seit dem Sommersemester finden die meisten Übungen nun allerdings in den Seminarräumen auf dem Campus statt und in diesem Semester wurde nur noch eine Vorlesung in den Hörsälen der Seefahrtschule gehalten. Die größeren Vorlesungen, also Analysis und Lineare Algebra, finden schon lange auf dem Campus statt, denn in der Seefahrtschule sind lediglich drei kleine Hörsäle untergebracht. Sie liegt in den südlichen Wallanlagen der Altstadtinsel zwischen dem Mühlenteich und dem Elbe-Lübeck-Kanal. Die Auffahrt zur Seefahrtschule versteckt sich zwischen der Mühlenbrücke und der Wallstraße und führt hinauf auf die Wallanlagen.

Geht man am Kanal zu Fuß entlang, so erblickt man erst das Kaisertor, auf dem die alte Seefahrtschule erbaut worden ist. Dieses stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist eines der kleineren Tore zur Stadt gewesen, welches wahrscheinlich nach seinem Erbauer benannt ist. Es wurde jedoch im 16. Jahrhundert zugeschüttet und darauf Wallanlagen errichtet. Wesentlicher Zugang zur Stadt ist zu der Zeit das nahegelegene Mühlentor gewesen, das ebenso wie das Holstentor aus 3 Toren bestand und dessen inneres Tor etwa auf der Höhe des alten Zolln stand. Auf den Grundmauern des zum Teil abgetragenen Kaiserturms wurde 1826 das „Gebäude zur Lehranstalt für die Schifffahrtskunde“ errichtet und die 1808 gegründete Navigationsschule zog dort ein. Der heutige Bau stammt etwa aus dem Jahr 1900. Während der Bauarbeiten am Elbe-Lübeck-Kanal, in den 3 Jahren davor, wurde das Kaisertor wieder freigelegt. Als Durchgang zur Wallstraße wurde das Kaisertor auch für die Festlichkeiten zur Eröffnung des Kanals genutzt. In der Seefahrtschule wurden Seeleute und Steuermänner, Kapitäne und Piloten sowie Seefunker und Maschinisten ausgebildet, wobei während des zweiten Weltkriegs die letzten beiden Studiengänge eingestellt waren. 1969 erfolgte eine Teilung der Seefahrtschule, da der Fachbereich Seefahrt an der im selben Jahr gegründeten Fachhochschule einen Teil der Studiengänge übernahm. Schließlich wurde die Seefahrtschule Lübeck 1993 nach Flensburg verlegt.

Ebenfalls im Jahr 1993 wurde an der Universität zu Lübeck (damals noch Medizinische Universität zu Lübeck) der Diplomstudiengang Informatik eingerichtet. Die drei ersten Institute, die nach dem Gründungsinstitut (medizinische Informatik von Prof. Dr. em. Pöppl) entstehen, ziehen in die nun leerstehende Seefahrtschule ein. So teilen sich das Institut für theoretische Informatik (Prof. Dr. Reischuk), das Institut für praktische Informatik (Prof. Dr. Linnemann) und das Institut für Mathematik (Prof. Dr. Lasser) ab 1994 die Räume der alten Seefahrtschule. In das alte Direktorenzimmer mit der Veranda zieht die Bibliothek ein und aus den drei alten Klassenzimmmern werden kleine Hörsäle. Damit ist die alte Seefahrtschule neben dem Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung (IMGWF) in der Königstraße der zweite Standort der Universität zu Lübeck in der Altstadt. Die Einrichtung der Seefahrtschule steht schon damals unter Denkmalschutz, so dass die alten Schränke mit Instrumenten nicht nur erhalten bleiben müssen, sondern an ihren ursprünglichen Plätzen bestehen bleiben. Dadurch ist etwa auf dem Flur im neueren (östlichen) Teil der Seefahrtschule ein alter Schrank mit physikalischen und chemischen Apparaturen. Auch in einigen Büros – etwa dem von PD Dr. Teichert – stehen nautische Instrumente und ein alter Schreibtisch, der trotz seines Alters weiterhin genutzt werden darf. Im kleinsten der Hörsäle, dem ebenfalls im östlichen Teil gelegenen Hörsaal 3, ist sogar noch die alte Einrichtung mit Schulbänken und einem großen Transformator vorhanden. In den Abseiten stehen außerdem alte Funkgeräte und Globen, sowie Karten, -ständer und Navigationsgeräte. Neben den drei Instituten bleibt ein Bereich der Seefahrtschule dem norddeutschen Rundfunk vorbehalten, der auf den Wallanlagen direkt neben der Seefahrtschule einen Sendemast betreibt.

Mit der Zeit entstehen weitere Institute der Informatik, die zunächst in der Seelandstraße in Kücknitz untergebracht werden. Eine Ausnahme bildet das Institut für technische Informatik, das in der alten Küche des Universitätsklinikums, dem Haus 33, unterkommt. Mit der Fertigstellung des zunächst nur 2-stöckigen Informatik-Gebäudes (Gebäude 64) auf dem Campus ziehen im Jahr 2004 sämtliche Institute der Informatik auf den Campus. In der Seefahrtschule bleibt lediglich das Institut für Mathematik. Die Grundlagenvorlesungen finden zu der Zeit schon auf dem Campus statt, denn für die etwa 200 Erstsemester der Studiengänge Informatik, CLS (heute MML) und MLS reichen selbst die dortigen Hörsäle V1 und V2 nur knapp. Nach dem Bau des Audimax von 2004 bis 2008 beginnt im Jahr 2009 die Erweiterung des Informatik-Gebäudes. Rundherum wird eine gesamte Etage auf das Gebäude gesetzt: Der Rundbogen erhält eine zweite Etage, die beiden Flügel eine Dritte. Vorgesehen war diese Etage schon 2004, doch fehlten damals die Gelder. So begleitet Baulärm bis Ende 2010 den Wissenschafts- und Lehrbetrieb im Informatikgebäude.

In der Seefahrtschule bleibt es ruhig. Zwar sind zwischenzeitig brandschutzbedingt 2008 einige Türen in den Fluren nachgerüstet worden, davon abgesehen gibt es allerdings seit einigen Jahren störende Mängel am Gebäude, wie etwa Schimmel in den Kellerwänden des östlichen Teils, wo die Toiletten untergebracht sind. Nicht nur deswegen, sondern auch, um die Wege zu verkürzen, ist einer der neuen Flügel für das Institut verplant. Im Januar 2010 wird aus der Arbeitsgruppe SAFIR um Prof. Dr. Bernd Fischer das Institute of Mathematical Image Computing (MIC). Mit den Plänen, ein Frauenhofer-Institut zu werden, und somit einigen neuen Mitarbeitern wird es zunächst eng in der Seefahrtschule. Der Plan, die gesamten Mitarbeiter in der Mathematik in einem der neuen Flügel unterzubringen, ist damit nicht mehr realisierbar. Nach einigen Verhandlungen zieht das MIC im Mai 2011 in das Multifunktions-Center (MFC) 2 am Carlebachpark nahe des Universitätscampus.

Der Umzug des Instituts für Mathematik, der eigentlich für März 2011 angedacht war, verschiebt sich, da mit der Anschaffung und Planung der neuen Möbel einige Probleme auftreten. Abgesehen von ein paar Verwirrungen bezüglich der Räume für die Übungen im Sommersemester und der häufigen Frage, wann denn nun der Umzug sei, bleibt alles wie vorher: Zu Vorlesungen und Übungen auf dem Campus muss man zwar ein wenig Zeit einplanen, dafür bleiben den Mathematikern der schöne Ausblick und die Nähe zur Altstadt.

Zum ersten Dezember 2011 ist nun das Institut für Mathematik im dritten Stock des Gebäudes 64 eingezogen und die alte Seefahrtschule steht leer. Zwischenzeitig stand der Plan im Raum, die lübsche Polizei eine Weile dort unterzubringen, um das 1. Revier in der Mengstraße zu renovieren. Auch der Verein für Denkmalschutz überlegte, die alte Seefahrtschule zu übernehmen und ein Seminargebäude daraus zu machen, in dem dann Lehrgänge zu Denkmalpflege – eventuell auch am praktischen Beispiel des Gebäudes selbst – hätten stattfinden sollen. Aktuell sucht das Land Schleswig-Holstein nach einem Interessenten und bleibt derweil Eigentümer der alten Seefahrtschule. Besitzer der Seefahrtschule ist weiterhin die Universität zu Lübeck, behält also etwa vorerst die Schlüssel und die Pflichten, die ein Gebäude so mit sich bringt.

Als ich Anfang 2009 meinen ersten Schreibtisch in der Seefahrtschule bekam, um meine Diplomarbeit dort zu schreiben, stand schon fest, dass das Institut in absehbarer Zeit aus der Seefahrtschule ausziehen wird. Damals sagte ich scherzhaft, ich würde dann eine WG dort aufmachen, denn die Lage und der Ausblick sind wirklich schön, dann noch in einem über 110 Jahre altes Gebäude – meiner Meinung nach traumhaft. Natürlich ist eine WG in der Seefahrtschule kaum realisierbar, denn mit dem Denkmalschutz wären die notwendigen Umbauten kaum vereinbar. Bleibt zu hoffen, dass sich ein Weg findet, auf dem die alte Seefahrtschule renoviert wird und weiterhin als das erhalten bleibt, was sie – beziehungsweise der vorherige Bau – über 180 Jahre nun war: ein Ort der Lehre mit altem Charme, einer schönen Wallanlage drumherum am südlichen Ende der Altstadt.

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