Wer einmal eine gewisse Zeit auf einer Rettungswache verbracht hat, der kennt das Gefühl, morgens nicht zu wissen, wie viel Arbeit der Tag bereit hält. Und vor allem nicht: Welche Arbeit der Tag bereit hält. Das meiste ist Routine: Die Omi mit dem schwachen Herzen, die Schnittwunde, bei der der Blutverlust schlimmer aussieht als er tatsächlich ist, die leichten Auffahrunfälle ohne wirkliche Verletzte. Doch dazwischen schieben sich auch immer wieder mal Kuriositäten, teilweise gänzlich unerwartete Situationen und Orte. Mitunter wird man mit Dingen konfrontiert, die man so nie für möglich gehalten hätte und die einem lange nicht aus dem Gedächtnis gehen. Dabei reicht die Spanne vom größten Elend in verwahrlosten Wohnungen bis hin zu Patienten, bei denen man schon einmal ein breites Grinsen unterdrücken muss, weil die Situation einfach zu abstrakt oder skurril ist. Wer im Rettungsdienst arbeitet, hat definitiv viel zu erzählen.

Das hat sich wohl auch Jörg Nießen gedacht und hat „20 wahre Geschichten vom Lebenretten“ in einem Buch zusammengefasst. Der Feuerwehrmann und Rettungsassistent ist seit 15 Jahren im Dienst und dabei in einer nicht näher genannten Großstadt irgendwo in Nordrhein-Westfalen unterwegs. Meist wird er begleitet von seinem liebenswerten, fiktiven Kollegen Hein, der für alle Eigenheiten der verschiedenen Rettungsassistenten steht. Alle anderen Charaktere des Buches werden entweder im Vorwort des Autors vorgestellt, oder aber sie erschließen sich in den entsprechenden Kapiteln – die Nießen „Notfälle“ nennt – selbst.

Und dann geht es auch schon zum ersten Einsatz. Notfall 1: Der Klassiker! Dinge, die wie durch Zufall in Körperöffnungen verschwinden, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben… Die Tür wird den Rettungsassistenten von einem homosexuellen Pärchen geöffnet. Das Problem: Einer der Partner hat sich zwei Billardkugeln rektal eingeführt, „die Drei und die Vier“, wie näher bekundet wird. Die Begründung auf die Frage, warum gerade Billardkugeln, ist ebenso simpel wie einleuchtend: Sie sind nummeriert. Und wenn man sie nicht mehr rauskriegt, weiß man wenigstens, wie viele noch drin sind. „Die Eins und die Zwei sind ja da“, erklärt einer von beiden. Weitere Fragen, haben die Rettungsassistenten da keine mehr.

Dass man sich im Rheinland befinden muss, wird spätestens beim 2. Notfall klar: Auftritt Jupp, in der Eckkneipe „Zum Blasierten“. Dort hat er die 50 Euro, die er zuvor beim Taxi fahren verdient hat in Bier und Schnaps angelegt und erfreut sich bester Laune, bis er das Gleichgewicht nicht mehr halten kann und vom Barhocker aus eine Etage tiefer rutscht – Hinterkopf voraus. „Eine Kopfplatzwunde wie mit einer Axt geschlagen“ ist das Ergebnis. Der Wirt gibt auf den Schock erst einmal eine Runde aus, dann ruft er den Rettungsdienst. Und was hat das mit Nordrhein-Westfalen zu tun? Bisher könnte diese Begebenheit eigentlich überall auf dieser Welt stattgefunden haben. Zumindest bis Jupp den Mund aufmacht, um sich gegen den Rettungsdienst zu erwehren: In feinstem Dialekt tut er seinen Unmut kund, auch später gegenüber der nachgeforderten Polizei.

Rheinisch geht es auch beim 5. Einsatz zu. Der Rettungswagen wird zum Karnevalsumzug gerufen. Dabei ist nicht nur die Anfahrt schwierig. An der vermeintlichen Einsatzstelle angekommen, gibt es schlicht und einfach keinen Patienten und auch die anschließende Suche bleibt erfolglos. Wenigstens die Jecken haben ihren Spaß und loben die Rettungsassistenten gleich für deren wirklich überzeugende Verkleidung.

Weiter geht es in einem bunten Potpourri aus mehr oder weniger gravierenden Notfällen. Da ist der Herr, der seit sechs Tagen an akutem Darmverschluss leidet, jedoch schon vor Eintreffen des Rettungspersonals mehr als genug Durchfall produziert. Da ist die resolute alte Dame, die den in ihren Augen ungehobelten Notarzt nur noch mit „ehemaliger Medizinstudent“ anspricht. Es gibt Stammgäste, wie die esoterisch angehauchte Freizeit-Heilpraktikerin Veronika, die sich unsterblich in einen der Rettungsassistenten verliebt oder ein junges Tanzpaar, das sich beim Training immer wieder handgreiflich zurecht weisen muss, was in immer wüstere Verletzungen mündet. Es gibt eine Geburt im Rettungswagen, einen Junkie, der die abstrusesten Substanzen raucht und eine italienisch Familie, die sich just zum Endspiel der Fußball-EM ausgiebig um den Spross der Familie sorgt.

Spätestens beim Einsatz bei Agnes geht einem jedoch das Herz auf. Die 70-jährige Dame wollte ihrem Josef doch nur den Tee bringen. Doch dieser reagierte nicht, sondern saß bewegungslos im Sessel, offensichtlich frisch verstorben. Der Notarzt musste nur noch den Tod feststellen, doch Hein und Jörg unterhalten sich mit der Witwe. Diese berichtet eifrig, sie habe noch eine Herzmassage durchgeführt, allerdings erfolglos. Das verwundert die Helfer, denn Josef sitzt normal im Sessel, ist vollständig bekleidet. Wie sie das gemacht habe, wollen sie wissen. Agnes verschwindet kurz, um mit einem kleinen Fläschchen wieder zu kommen. Sie knöpft Josefs Hemd ein Stück auf, träufelt eine Flüssigkeit auf seine Brust und beginnt, diese einzumassieren. Dabei macht sich im Wohnzimmer der Geruch von 4711 breit – und die Gewissheit, dass es sich hier um keine normale Reanimation handeln konnte.

Alles in allem gelingt es Jörg Nießen sehr gut, seinen Leser zu unterhalten. Auf charmante und amüsierende Weise erzählt er von seinem Beruf, den er offensichtlich mit Leib und Seele ausführt. Die einzelnen Geschichten sind dabei kurz genug, um auch mal zwischendurch gelesen zu werden. Doch wenn man die Zeit dazu hat, legt sich das Buch nur schwer aus der Hand, so sehr fesselt der Gedanke, was noch alles passieren wird. Dabei braucht man überhaupt kein Fachwissen, um alles zu verstehen, da es eher um das Zwischenmenschliche geht als um die Medizin.

Bleibt nur noch die Frage, woher das Buch eigentlich seinen Titel hat. Den verdankt es Frau Ramm, Notfall Nummer 6. Diese öffnet recht gleichmütig die Tür und lotst die Rettungsassistenten zum Badezimmer, wo sich offensichtlich der Patient befindet. Der trockene Kommentar beim Öffnen der Tür: „Schauen Sie sich mal diese Sauerei an!“ Was hat Herr Ramm im Badezimmer angestellt? Findet es raus, es lohnt sich!

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