Donnerstagabend um 19:30 Uhr wurde auch die Letzte unserer kleinen Brüsselgruppe aus ihrem Physiologiepraktikum befreit, um gemeinsam mit uns zur Bushaltestelle zu stürzen, den Bus gerade noch zu bekommen und dann den Zug nach Hannover zu nehmen. Vier Mädels aus dem 3. Semester Medizin hatten sich aufgemacht, um dem Aufruf aus Berlin von „Ärzte ohne Grenzen“ zu folgen. Der Aufruf hatte insbesondere Ärzte und Medizinstudierende aufgefordert, mit nach Brüssel zu kommen, um dort am 10. Dezember 2010 gegen das geplante Freihandelsabkommen der EU mit Indien zu protestieren. Ausgerechnet am Tag der Menschenrechte fand das Gipfeltreffen zwischen der EU und Indien statt und die Partner verhandelten den Entwurf, der im Frühjahr nächsten Jahres verabschiedet werden soll. Zu den Forderungen der EU gehört eine erschwerte Zulassung von Generikaprodukten und die Verlängerung des Patentschutzes, der bislang in Indien 20 Jahre beträgt. Außerdem wurden in der Vergangenheit bereits häufiger in Indien hergestellte Medikamente auf dem Weg nach Lateinamerika oder Afrika in europäischen Häfen beschlagnahmt. Die indische Regierung soll nun ihr Einverständnis dazu geben, dass Medikamente im Rahmen des neuen Freihandelsabkommens legal beschlagnahmt werden können. Da ich gerade noch auf dem Bundeskongress des bvmd ein Seminar zum Thema „Global Health“ belegt hatte, bei dem unter anderem auch auf die Auswirkungen der Patentrechte auf die medizinische Versorgung in Entwicklungsländern eingegangen worden war, schrieb ich sofort nach Berlin und sicherte den Studierenden der Uni Lübeck ein paar Plätze in dem Bus. So kamen wir am besagten 10. Dezember um 8:30 Uhr nach einem langen Stau gerade noch rechtzeitig zur geplanten Aktion. Zur einen Hälfte als Ärztinnen und Ärzte verkleidet und zur anderen Hälfte mit T-Shirts mit der Aufschrift „HIV-positiv“ bekleidet, standen wir zusammen mit etwas mehr als 100 Aktivistinnen und Aktivisten vor dem Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel. „Europe – Hands off our Medicines“ lautete der Slogan, den wir immer und immer wieder, begleitet von Trillerpfeifen und Vuvuzelas riefen. Dann fingen drei als Merkel, Sarkozy und Berlusconi verkleidete Mitdemonstranden an, eine Mauer zu errichten und mit ihren riesigen europafarbenen Klauenhänden die Medikamente von Ärzten und HIV-positiven Patienten fernzuhalten. Als die Mauer zu hoch war und keine Medikamente mehr von der anderen Seite zu uns gelangen konnten, kam es zu einem sogenannten „die-in“. Unsere Mitdemonstranden in den „HIV-positiv“-T-Shirts zeigten enorm viel Einsatz und lagen trotz massivem Regen und dementsprechend aufgeweichtem Boden auf der Erde und rührten sich nicht. Ein eindrucksvolles Bild, das wir durch erneute und nachdrückliche „Europe – Hands off our medicine“ Rufe begleiteten.

Von den Veranstaltern wurde uns mitgeteilt, dass die Aktion eine „überwältigende Präsenz in den europäischen Medien“ bekommen habe. „So gut wie alle Artikel zum EU-Indien-Gipfel haben die Proteste bzw. die Problematik, dass die Generikaproduktion in Indien bedroht ist, mit aufgenommen!“ wurde uns in einer anschließenden Mail mitgeteilt. Das hat uns natürlich ganz besonders gefreut und wir hoffen, dass es auch andere Studierende motiviert, sich für Dinge, die Ihnen wichtig sind, zu engagieren, denn man kann mehr bewegen als man manchmal denkt. Und solche kreativen Protestaktionen, wie diese in Brüssel, ergänzen andere diplomatische Wege, die gegangen werden müssen, um zu einem Ziel zu gelangen.
„Ärzte ohne Grenzen“ hat sich natürlich auch inhaltlich viel mit dem Thema beschäftigt und unter anderem einen offenen Brief an unsere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und unseren Gesundheitsminister Philipp Rösler geschrieben, in dem sie auffordern, sich auf EU-Ebene einzumischen. In dem Brief heißt es: „Ärzte ohne Grenzen bezieht antiretrovirale Medikamente zur Versorgung der HIV/Aids-Patienten zu 80 Prozent vom indischen Generika-Markt. Die Verfügbarkeit von so genannten Kombinationspräparaten hat die Behandlung von HIV/Aids-Patienten revolutioniert: Diese Kombinationstabletten sind besonders geeignet, eine optimale Behandlung in ärmeren, strukturschwachen Ländern zu gewährleisten. Die Bereitstellung dieser Kombinationspräparate ist nur möglich, weil Indien keine Patent-Hemmnisse kannte, die diese Zusammenstellung behindert hätte. Heute erhalten vier Millionen HIV-Infizierte die lebensrettende antiretrovirale Aids-Therapie. 92 Prozent von ihnen erhalten Nachahmerpräparate, sogenannte Generika – meistens aus Indien. Im Zuge der Anpassung an WTO-Standards hat Indien ein Patentrecht entwickelt, das eine ausgewogene Balance zwischen dem Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten für Patienten und den Interessen von Pharma-Unternehmen schuf. Wir sind besorgt, dass das EU-Indien-Freihandelsabkommen Bestimmungen enthalten könnte, die diese Entwicklung zunichte machen würde. Dies wäre ein erheblicher Rückschritt mit fatalen Folgen.“

Wenn ihr es jetzt nicht mit nach Brüssel geschafft habt, die Initiative von Ärzte ohne Grenzen aber trotzdem für unterstützenswert haltet, könnt ihr euch im Internet an einer Mailaktion beteiligen. Außerdem bekommt ihr weitere Informationen und vor allem aktuelle Aktionen zu der Kampagne unter msfaccess.org/. Denn das Freihandelsabkommen ist ja noch nicht beschlossen. Es ist besonders wichtig, dass die Aufmerksamkeit der Medien, aber natürlich auch der Bevölkerung, jetzt nicht nachlässt und die Verhandlungen weiterhin beobachtet werden. Und gerade uns als Medizinstudierenden sollte die Weltgesundheit nicht egal sein.

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