Juri Klusak

Die Alte Mensa, einen Monat in Besetzerhand.

Mittwoch, 18. November 2009. 23:55 Uhr, Alte Mensa, Uni Kiel.

Vorn auf dem Hörsaalpult sitzt eine zierliche junge Frau und leitet die Diskussion. Sie spricht ohne Mikrophon zu einigen hundert Leuten. So laut, wie ich vielleicht daheim am Esstisch reden würde. Das Plenum ist so mucksmäuschenstill, dass auch in den hinteren Reihen jedes Wort deutlich zu verstehen ist. „Als nächstes auf der Rednerliste habe ich: Dich hier vorne im weißen Pulli, dann kommt Flori [Amn. d. Redaktion: Alle Namen geändert.] und danach irgend jemand am Fenster – ach ja, genau, Du da.“

Zwei Stunden tagt das erste Besetzerplenum jetzt schon, die Luft im Hörsaal der Alten Mensa wird langsam miefig, aber die Kommunikation funktioniert: Wer reden will, meldet sich und landet auf der Rednerliste, wer redet, steht auf und stellt sich vor. Fast jede dieser Regeln hat das Plenum ausgiebig diskutiert und abgesegnet. Allein die Diskussion über den Abstimmungsmodus hat mehr als eine halbe Stunde gedauert. „Herrschaftsfreier Diskurs“ heißt das Zauberwort. Niemand soll sich mit Macho-Gehabe durchsetzen können. Jeder Mensch darf am Plenum teilnehmen, mitreden und abstimmen. Die linken Einflüsse auf das Besetzer-Milieu sind nicht zu verkennen – und gerade darum geht es bei dieser Diskussion. Ich verfolge sie gespannt, denn ich sehe die Besetzung als Spielwiese des Miteinanders, als gelebte Basisdemokratie. An den bildungspolitischen Inhalten bin ich als Student im Endstadium nur halbherzig interessiert. Später wird sich herausstellen, dass ich damit nicht allein bin.

Die Frau im weißen Pulli in einer der vorderen Sitzreihen beginnt zu reden, nur ein paar Satzfetzen kommen an. „Aufstehen“, schallt es aus dem Plenum. Sie steht auf und dreht sich nach hinten, lächelt nervös, wird sofort wieder ernst. „Als ich hier eben hergekommen bin…“ – „Entschuldige, wie heißt Du?“ unterbricht das Mädchen vorn auf dem Pult. „Ich bin Nina. Also, nochmal. Als ich eben hier hergekommen bin und draußen die Banner gesehen habe,“ beginnt sie unsicher, „da war ich gleich abgeschreckt. Die Rote Fahne, ‚Kapitalismus abschaffen‘, ich mein’, das sagt eben was darüber, wer diesen Protest macht und damit fühlen sich andere Leute sofort ausgeschlossen. Und deshalb finde ich, die Banner draußen sollten abgehängt werden.“ Während sie sich setzt, gehen im Plenum einige Dutzend Hände in die Luft und winken – ein Zeichen, das Applaus bedeuten soll, denn echter Applaus ist zu laut und zeitaufwändig und wäre bei einigen hundert Diskutanten und ebenso vielen Meinungen ein echter Störfaktor.

Die Fahnenfrage ist ein Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Beflaggung und linksradikale Symbolik, geduldet oder ausgeschlossen – diese Diskussion erhitzt die Gemüter schon am ersten Abend und entnervt einige Besucher so sehr, dass sie gleich wieder heim fahren. Gegen ein Uhr nachts steht schließlich Lars auf, ein schwarz gekleideter, bulliger Typ mit stattlichen Koteletten: „Ich kann euch gut verstehen“, wendet er sich an die Flaggenbefürworter, „ich finde Symbole auch total wichtig. Aber ich finde, wir sollten uns an dieser Frage nicht spalten lassen.“ Er predigt Verständnis für beide Seiten, dann stellt er noch einmal den Antrag auf Entfernung der Fahnen. Die überwältigende Mehrheit des Plenums ist dafür. Lars ändert seinen Tonfall: „So, und hat jetzt irgend jemand noch ein Veto dagegen?“ Es klingt fast wie eine Drohung.

Mit herrschaftsfreiem Diskurs hat diese Diskussion spätestens jetzt nicht mehr viel zu tun und im Rückspiegel erkenne ich: Schon hier scheitert das soziale Experiment der Besetzung an der Uni Kiel. Alle sollen gleiche Rechte haben, jeder frei entscheiden können, keiner soll sich benachteiligt fühlen – die Realität sieht anders aus. Natürlich gibt es auch hier Sprecher für bestimmte Gruppen und bestimmte Meinungsbilder, natürlich gibt es auch hier Leitwölfe, wie in jeder anderen Versammlung von Menschen. Natürlich gehen auch hier Einzelne enttäuscht nach Hause, weil ihre Meinung kein Gehör gefunden hat und einzelne Wichtigtuer sich in den Vordergrund drängeln. Der wesentliche Unterschied scheint mir im Nachhinein zu sein, dass gerade über die unwichtigsten Fragen am längsten diskutiert wird. Das Motto scheint zu lautet:

Es wurde schon alles gesagt, aber noch nicht von jedem. Für jetzt schwimme ich auf einer Welle der Euphorie, denn im Hörsaal bricht Jubel aus. Die Einigung ist erreicht. Einer der Besetzer holt seine rote Flagge vom Vorplatz in den Hörsaal herein.

Juri Klusak

Das Foyer.

Donnerstag, 19. November 2009. 13:10 Uhr.

Die Stimmung in der Alten Mensa ist ausgelassen. Das Vorlesungsgebäude ist wieder zur Futterstelle geworden. Im Foyer ist ein regelrechtes Buffet aufgebaut und der Duft von frischem Brot liegt in der Luft. Außerdem gibt es Gemüsesuppe aus geschnorrten Resten vom Markt, Salat, Käse und kistenweise Obst. Wer etwas essen möchte, wirft einen Kostenbeitrag in ein Spendenglas und bedient sich. Das System funktioniert, der Spendentopf ist übervoll. Nebenan im kleinen Hörsaal feilt der Arbeitskreis Presse fieberhaft an der Außendarstellung der Besetzer. Die Lokalpresse regt sich langsam und soll empfangen und herumgeführt werden. Auch eine Reporterin der taz hat sich schon angemeldet. Ein Blog, ein Twitteraccount und diverse Kommentarseiten im Internet wollen gefüllt und gepflegt werden.

Ein wenig rätselhaft ist für mich, woher die ganze Infrastruktur so plötzlich kommt. Nach der Bildungsstreik-Demo am Mittwoch hatten sich einige hundert Studenten in der Alten Mensa versammelt und die Besetzung beschlossen. Den Aufruf zu dieser Versammlung hat Lua herausgegeben. Ich kenne sie flüchtig, ein unscheinbares Mädchen mit Dreadlocks und einer Affinität zum leicht Verrückten. „Ich hatte gehofft, dass irgendwas passiert,“ erzählt sie mir zwischen Hörsaaltür und Angel, „aber dass so ein Riesending draus wird… So viele Leute!“ Sie strahlt von einem Ohr zum anderen und verdreht die Augen, dann muss sie wieder weg, um irgend etwas zu organisieren. Besetzung, das bedeutet: vorläufige Aneignung des Gebäudes, Zeit und Raum für Diskussion und Information. Dass in diesem Gebäude bis auf weiteres keine Vorlesungen stattfinden können, erkennt sogar die Universitätsleitung an, die den Besetzern eine Duldung bis zum Montag ausgesprochen hat. Einige dutzend Studenten haben oben im Schlaf-Hörsaal übernachtet, hunderte Unterstützer treiben sich jetzt irgendwo an der Uni herum, besuchen ihre Vorlesungen und Seminare. Im Abendplenum sollen heute noch mehr Studenten für die Besetzung gewonnen werden. Wer vor dem Audimax ein Ohr aufsperrt hat, weiß aber, dass die meisten Kommilitonen ihr Vorurteil schon längst gefasst haben: Einige linke Spinner, so die gängige Meinung, wollen auf den Putz hauen und in der Alten Mensa ein bisschen Revolution spielen.

Entgegen aller Unkenrufe füllt sich abends um sieben der Hörsaal mit Studenten aller Couleur. Da sitzt der Neo-Hippie neben der Jurastudentin, die libertäre Feministin neben dem hochgeklappten Polohemdkragen von der Jungen Union. So unterschiedlich wie die Diskutanten sind auch die Diskussionsthemen, die nun durcheinander gemischt werden. Die freiwilligen Moderatoren verzweifeln an der Aufgabe, die Tagesordnung beieinander zu halten. Eine resolute Rothaarige betont, man sollte doch endlich zu den Inhalten kommen, zur Bildungspolitik nämlich. Ein Teilnehmer macht seinen Unmut darüber Luft, dass im Hörsaal fotografiert wird, weil er strafrechtliche Verfolgung fürchtet. Ein selbstgefälliger Rhetorikkünstler hält einen fünfminütigen Monolog über die Wichtigkeit studentischer Freiräume, bis viele im Plenum nur noch angestrengt stöhnen. Ein Journalist erklärt, es sei sehr wichtig für ihn, fotografieren zu dürfen. Ein bärtiger Politikstudent haut auf den Hörsaaltisch und mahnt, jetzt „verdammt nochmal“ endlich zu den Inhalten zu kommen. Die Inhalte lassen sich Zeit. Gegen Mitternacht gibt es eine Pause, drei Viertel des Plenums verschwinden nach Hause. Der klägliche Rest diskutiert noch stundenlang Formalitäten, bis auch der Letzte nur noch ins Bett, respektive den Schlafsack will. Die Letzte ebenfalls – es wird jetzt nämlich verstärkt „gegendert“.

Juri Klusak

Manche kümmerten sich vor allem um die Inhalte.

Freitag, 20. November 2009. 16:40 Uhr.

Am Esstisch im Foyer beredet ein kleiner, zusammengewürfelter Haufen die Lage der Dinge. Über Nacht hat einer der Besetzer eine Wand im oberen Flur mit Anarchiezeichen und platten Parolen beschmiert. Nicht jeder findet das schlecht: Das Organisationsplenum am Morgen hat sich nicht auf eine eindeutige Stellungnahme dazu einigen können. Einige sehen die besetzte Alte Mensa als Freiraum, in dem Gesetze und Universitätsordnung nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das Vetorecht verhindert, dass sie im Plenum von den Gemäßigten überstimmt werden.
Markus, der bärtige Politikwissenschaftler von gestern Abend, macht ein langes Gesicht. Für das Plenum hat er nur noch harte Worte übrig. „Ich will nur endlich mal zum Punkt kommen. Das ist der dritte Tag der Besetzung und wir haben nichts in der Hand. Nichts!“ Wirklich aufregen kann er sich aber kaum mehr. Er hat sich schon seit Monaten intensiv mit der Bachelor/Master-Thematik auseinandergesetzt, hat mit Politikern verhandelt und Konzepte erarbeitet, eine Vollversammlung der Kieler Studenten organisiert. Dass sich die Besetzer im Plenum seine Erkenntnisse und Vorschläge nicht einmal anhören wollen, ist für ihn offenbar frustrierend. Mit einem guten Dutzend anderer Interessierter diskutiert er jetzt regelmäßig im kleinen Hörsaal über Bildungspolitik, unabhängig vom Plenum.

Ich schiebe mir ein paar tropfnasse Salatblätter auf einen der flachen Teller, mache mir ein Käsebrot dazu. Es ist schon der dritte Teller, aber heute bleibe ich merkwürdig unzufrieden. Das teils vegetarische, teils vegane Essen macht mich einfach nicht mehr satt. Eine Bekannte grinst mich wissend an, während ich missmutig meine Stulle vertilge. Es hilft alles nichts.

Ich muss nach Hause und mir zwei Eier in die Pfanne hauen. Gaumen und Bauch feiern ein Fest. Zurück komme ich vor dem Abendplenum mit Schlafsack und Isomatte. Heute möchte ich übernachten – um die Atmosphäre aufzusaugen und weil ich den Arbeitskreis Sicherheit unterstützen möchte, der nachts das Gebäude bewacht. Das Plenum wird eine große Enttäuschung. Wieder gerät die Diskussion vollkommen aus dem Ruder. Die Meinungen gehen weit auseinander, und zwar über die immer gleichen Fragen: Wer darf Fotos machen und wer nicht? Ist es okay, an jede freie Fläche einen antifaschistischen Aufkleber zu pappen? Der Verdacht, dass es einigen Besetzern mehr um den irren, alternativen Lifestyle geht als um bildungspolitische Inhalte, erhärtet sich immer mehr.

Neu dazugekommene Studenten verlassen den Saal in großen Trauben und lassen die Verzweiflung nur noch deutlicher hervortreten: „Ich kann es nicht glauben, was hier abgeht!“ schreit eine Studentin schon mehr, als dass sie es sagt. „Wir beharken uns gegenseitig und währenddessen laufen uns die Leute weg“. Die Aufregung steigert sich weiter und weiter, die Fronten sind alles andere als klar, die Gruppen ziemlich heterogen und unübersichtlich. Nach drei, vier Stunden ist vielleicht noch ein Zehntel der Teilnehmer übrig. Wer geblieben ist, ist erschöpft und wütend. Die offene Diskussion ist gescheitert.

„Wir sollten das hier auflösen und schlafen gehen, morgen ist alles wieder anders,“ appelliert einer mit sorgenvollem Gesicht. Nachdem drei andere den Vorschlag wiederholt haben, ist endlich Schluss für heute. Noch stundenlang erörtern Schlaflose im Großen Hörsaal, wie solche Situationen zukünftig vermieden werden können. „Seid lieb zueinander“, schreibt jemand auf ein großes Transparent.

Vor der Tür gönnen sich einige ihr Feierabendbier, es ist lau für eine Novembernacht in Kiel. Meine Gedanken kreisen um die Geschehnisse der letzten Tage. Von funktionierender Kommunikation kann keine Rede mehr sein. Morgen früh werde ich die Alte Mensa verlassen. Das soziale Experiment ist für mich beendet, alles Weitere werde ich irgendwann mit einem Lächeln betrachten können. Dem „AK Security“ sitzt der Schreck über den Verlauf des Plenums genauso in den Knochen wie mir. Wir haben jetzt aber eine Aufgabe zu erledigen. In den vergangenen Nächten hat es unerwünschte Gäste gegeben. Irgendwer erzählt, es seien Streifenwagen überall um die alte Mensa herum postiert, die Polizei warte nur auf einen Anlass, das Gebäude räumen zu können. Mir scheint, man nimmt sich wichtiger, als man wirklich ist.

Die Nacht bleibt ruhig. Wer noch nicht schläft, diskutiert in kleinen Grüppchen mit Fremden und Freunden. Nicht immer genderkorrekt aber ganz zivilisiert und respektvoll. Beinahe herrschaftsfrei.

Was danach geschah

Das Universitätspräsidium bot den Besetzern im Dezember an, statt der Alten Mensa einen ehemaligen Fahrradladen als Arbeits- und Präsentationsraum zu nutzen. Das Plenum lehnte ab, einige Studenten nutzten das Angebot. Hieraus ist die „Hochschulgruppe Bildungsinfo“ entstanden, die zusammen mit Markus den AStA bei den Planungen für eine Vollversammlung der Studierenden im April unterstützt.

Die verbliebenen Besetzer räumten kurz vor Weihnachten auf Verlangen das Präsidiums die Alte Mensa.

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