Demonstrieren heißt Bier zum MittagLukas Ruge | StudentenPACK.

Demonstrieren heißt Bier zum Mittag

„Wenn deutsche Revolutionäre einen Bahnhof stürmen wollten, kauften sie sich erst einmal eine Bahnsteigkarte.“ Das hat Lenin mal gesagt, zurückblickend auf verschiedenste äußerst halbherzige deutsche Revolutionen.

In den späten Sechzigern konnte man dann betrachten, dass das so nicht ganz richtig ist,und 1989 schaffte es die östliche Hälfte von Deutschland sogar, eine ordentliche Revolution auf die Beine zu stellen. Ohne Bahnsteigkarte. Daran kann sich heute so gut wie kein Student wirklich erinnern. Wir feiern das zwanzigste Jubiläum der friedlichen Revolution in der DDR und wer auf den Internetseiten der studentischen Selbstverwaltungen in Deutschland und Österreich unterwegs ist, könnte glauben, die nächste Revolution steht vor der Haustür.

Revolution

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Bildungsstreiks. Bildungsstreik ist das Motto, unter dem sich so ziemlich alles wiederzufinden scheint, was es gibt zwischen Himmel und Hölle. Dieser Bildungsstreik tobt schon geraume Zeit und unsere Universität hatte ihn bisher weitgehend an sich vorbei toben lassen. In einer Stellungnahme des AStA von Juni hieß es, man „verfolgt mit Interesse die Diskussionen und Entwicklungen im Rahmen des Bundesweiten Bildungsstreikes 2009.“ und „Wir solidarisieren uns mit den Studenten, Schülern, Eltern, Erziehern und anderen Unterstützern, die sich konstruktiv am Bildungsstreik beteiligen.“ Revolutionäre Rhetorik ist das nicht. Ganz mit Absicht, denn während die Befürworter des Bildungsstreiks erklären, die Probleme seien deutschlandweit, nein, international die gleichen, so ist dies einfach nicht wahr. Die Probleme sind überall anders. Große Universitäten haben natürlich erhebliche Probleme, ihre riesigen Studiengänge koordiniert zum Bachelor/Master zu überführen.  Je nach Bundesland sind die Regeln andere, so auch die Herausforderungen. All dies darf man nicht übergehen. Es mag eine gut gemeinte Lüge sein, aber bleiben wir doch bei der bescheidenen Wahrheit.

Die Wahrheit ist: Auch hier in Lübeck ist nicht alles perfekt. Einige Professuren wurden in den letzten Jahren nur langsam wieder besetzt, doch die Berufungskommissionen haben getagt und mit studentischem Einverständnis sind inzwischen Rufe ausgegangen. Im Studiengang Medizin werden zu viele Studenten zugelassen0, ein Problem, das wir uns als Universität selbst eingebrockt haben. Geld ist auch in Schleswig-Holstein knapp. Dieses Jahr merkt man das zum Beispiel an der Größe der Analysis-Übung, doch die Universität Lübeck steht noch recht gut da und mit den Plänen der Unileitung hin zu einer Stiftungsuniversität dürfte sich die finanzielle Lage noch verbessern. Überhaupt, die neue Landesregierung, man mag von ihr halten, was man möchte, plant keine Lehrerstellen abzubauen, keine Studiengebühren zu erheben, der Uni Lübeck stärkere Selbstbestimmungsrechte zuzugestehen, die Profiloberstufe zurückzunehmen und Ganztagsschulen mit individueller Betreuung zu stärken. Das liest sich ein bisschen wieder Forderungskatalog der Bildungsstreiker. Ein guter Grund also, auf die Straße zu gehen? Irgendwer hat das Konzept einer Demonstration nicht verstanden.

Der Streik ist, historisch betrachtet, das letzte Mittel des Arbeitskampfes. Wer streikt, sieht keine andere Möglichkeit, seine Position zu verbessern. Als Taktik hat der Streik eine mehr als 3000 Jahre alte Geschichte. Der erste dokumentierte Streik ist der der Pyramidenbauer in Ägypten. Der Bildungsstreik ist eigentlich aber gar kein Streik, wie man von Vertretern immer wieder hört; er heißt nur so und man solle sich daran nicht festbeißen. Unabhängig vom Namen: Wer auf die Straße geht, muss einen Grund haben. Aus Prinzip und weil ja sonst wenig los ist, ist kein Grund!

Das Thema hat in den Medien und an unserer Hochschule in den letzten Wochen an Hitzigkeit gewonnen. Am Donnerstag, dem 22. Oktober gegen 13:00 Uhr besetzen Studierende der Uni Wien ihr Audimax. „Spontan und ohne übergeordnete Organisation“, wie es im Statement heißt.  Andere Universitäten, zum Beispiel in Graz und Salzburg, folgen ihnen mit Hausbesetzungen. Im Internet verbreiten sie Forderungen, solidarisieren sich mit internationalen Bildungsprotesten und nehmen Kontakt zu den Verantwortlichen ihrer Hochschule auf. Dazu kommen im November Demonstrationen überall in Deutschland, auch in Lübeck, mit insgesamt mehr als 80.000 Teilnehmern.

Besetzungsfieber

Das Besetzungsfieber greift um sich. An vielen Universitäten in Deutschland kam es zu ebensolchen Besetzungen, daneben an einigen Universitäten Europas, darunter in Basel. Einige währten nur wenige Tage, andere wochenlang. Und während diese Besetzungen auf ein größeres Medieninteresse treffen, so sind sie doch zweckentfremdet, weil sie schlimmstenfalls die Studierenden am Studieren hindern und der Universitätsverwaltung und Politik letztlich egal sein können. So wird zum Beispiel auf einen Antrag hin im besetzten Hörsaal in Innsbruck abgestimmt, ob geräumt werden soll. Der Antragende hält eine Mehrheit, doch die Anführer der Besetzer verweigern sich der Entscheidung. Innsbruck bleibt besetzt. Auch anderorts fordern Studenten ihre Hörsäle zurück, meist erfolglos. Die Forderung nach Demokratisierung der Hochschulen erscheint vor diesem Hintergrund ein Hohn.

Der AStA der Uni Lübeck schickte aus Solidaritätein Care-Paket nach Wien. Das österreichische Bildungsproblem hat mit dem deutschen nicht viel zu tun, aber im um sich greifenden Aktionismus spielt das keine Rolle.„Es zeigt sich, dass die angeprangerten Missstände kein deutsches, sondern ein internationalesProblem sind“, schreibt der StuRa aus Dresden in völliger Verkennung der Tatsache, dass man in Wien weitgehend gegen österreichische Probleme kämpft. Auch die Freie Universität Berlin, der u-AStA der Uni Freiburg, derAStA Universität Regensburg, unsere Universitätund viele mehr bekunden ihre Solidarität.

Solidarität. Es ist ein Kernbegriff in der Debatte, insbesondere hier in Lübeck, da es an konkretenGründen zum Demonstrieren fehlt.„Eigentlich stehen wir in Lübeck noch ganz gut da“, sagt Christoph Leschczyck vom Bildungsbündnis für Lübeck auch gegenüber HL-Live. So flüchtet man sich in Allgemeinplätze: Man müsse doch irgendwas tun. Man müsse Nachdruckverleihen, man müsse sich geschlossen aufstellen. Das Bildungssystem sei so ungerecht.

Bildungssystem

Das Bildungssystem in Deutschland ist ungerecht. Nahezu jede zu dem Thema befragte Studie erkennt dies und es ist nicht falsch dagegen etwas tun zu wollen. Mit schwammigen, und undurchsetzbaren oder bereits erfüllten Forderungen durch die Straßen zu marschieren bring tuns sozialer Gerechtigkeit nicht näher. Wenn ihr was tun wollt, gebt sozial benachteiligten Kindern Nachhilfe, spendet Geld, entwerft Lernkartensätze. Wir können alle sowohl Lehrer als auch Schüler sein. Seid kreativ, seid konstruktiv!

Und natürlich, da gibt es keine Debatte, gibt es mancherorts Probleme, die sofortiges Handeln erfordern. Wenn an Universitäten ein de facto wertloser Bachelor vergeben wird, aber nur wenigen Menschen ein Zugang zum Master gegeben wird, dann ist das nicht tragbar. Wenn sozial ungerechte Studiengebühren erhoben werden, die für viele bedeuten, dass sie nie studieren dürfen, dann ist das nicht tragbar. Wenn Kursanmeldungen unmöglich sind, wenn die Arbeitslast zu groß wird, wenn das Geld auch für das Nötigste nicht reicht, dann ist auch das nichttragbar. An den Universitäten in den entsprechenden Städten wird zu Recht gegen diese Zustände protestiert. Doch nichts davon ist hier in Lübeck der Fall, nichts davon droht hier ernsthaft und es gibt nichts, was unsere Universität oder unsere Landesregierung tun kann, um anderorts die Zustände zu verbessern. Was unsere Universität in den letzten Jahren aber eindrucksvoll bewiesen hat: Solche Probleme lassen sich lokal lösen.

Gibt es also einen Grund, hier auf die Straße zu gehen? Nein, gibt es nicht! Es mangelt an klaren Forderungen denen man Nachdruck verleihen könnte. Es mangelt an konkreten Problemen, gegen die man sich aufstellen müsste. Es mangelt an einer wirklichen Gefahr,die es zu stoppen gilt.

Vorsicht

Ein Trend geht um. Einfach mal demonstrieren, des Demonstrierens wegen. Unsere Generation ist ja viel zu brav. Man hat all die Geschichten gehört, von den Lehrern, den Eltern, zumindest aus dem Fernsehen. Jetzt will man auch mal Anarchie schreien und dann bei Balzak nen Kaffee trinken gehen (Demos sind immer so unerträglich früh) und irgendwie gegen alles sein und außerdem gegen die „Fabrikation von gleichgeschalteten Ja-Sagern und Ausbildungskonsumenten“, was tatsächlich eine Forderung Münchener Hörsaalbesetzer ist. Und deshalb macht man jetzt hier mal den Tisch kaputt.

Es ist nicht unvorstellbar, dass das deutsche Bildungssystem in eine Krise schlittert. Ich bin da wahrlich kein Experte und sogar die sind sich, säuberlich den Parteilinien entlang, uneinig darüber, ob derartiges droht. Sollte das Problemso konkret werden, dass kein anderes Mittel mehr bleibt als die Straße, gibt es in Deutschland keine Möglichkeit mehr, den begründeten Forderungen Nachdruck zu verleihen,weil der Bildungsstreik alles Nachfolgende bereits der Lächerlichkeit preisgegeben hat.

Noch keine Kommentare, sei der Erste!