Es gibt kaum ein Organ des menschlichen Körpers, für das wir heute nicht irgendeinen Spezialisten finden können. Wenn man, durch die Straßen gehend, die Schilder an den Türen liest, Augenarzt, Ohrenarzt, Arzt für Lungen-krankheiten, Spezialisten für Magenleiden und so weiter, fällt einem unwillkürlich das Scherzwort ein, mit dem ein Zahnarzt dem Kranken Hilfe verweigert: “Das ist nicht mein Fach, ich bin Speziallst für linke obere Backenzähne.”

Ist nun das immer mehr sich ausbreitende Spezialistentum für den Menschen von Vorteil oder nicht? Es läßt sich nicht leugnen, daß das Gebiet der Medizin in den letzten Jahrzehnten so angewachsen ist, daß es dem einzelnen kaum möglich ist, sämtliche Disziplinen restlos zu beherrschen. Sicher aber ist es ganz unmöglich, sich jene technischen Fähigkeiten anzueignen, die, ganz abgesehen von der Chirugie, auch auf zahlreichen anderen Spezialgebieten nötig sind. So entstand das Spezialistentum als notwendige Folge der Entwicklung der Medizin, zunächst als eine Ergänzung zu der alten Einrichtung der Hausärzte, die es bald überwucherte.

Wo sind heute, wenn man von der Kassenärzten ab – sieht, überhaupt noch die Mediziner, die sich mit dem schlichten Titel “Praktischer Arzt” begnügen? Und die wenigen sehen ihre Praxis von Tag zu Tag zusammenschrumpfen. Denn man geht heute, wenn man krank ist, nicht zum Arzt, sein Leiden feststellen lassen, die Diagnose stellt man vielmehr selbst, oder mit Hilfe der Tanten und Basen, und wenn man sich klar zu sein glaubt, daß das Körperleiden noch im Magen sitzt, geht man zum Magenspezialisten. Das Gefühl dafür, daß der Mensch ein Ganzes ist, nicht ein Konglomerat von verschiedenen Organen, die lose und unzusammenhängend nebeneinanderliegen, ist der großen Menge fast ganz verloren gegangen. Und die Ärzte tun nichts dazu, den Irrtum richtigzustellen- Der Einfluß der Täglich sich mehrenden Kurpfuscher ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sie den schon seit Hippokrates von der Medizin vertretenen Fundamentalsatz: daß der Mensch ein unteilbares Ganzes ist und daß Störungen in einem Teile dieses komplizierten Getriebes notwendig Störungen des -Ganzen zur Folge haben, als ihre Entdeckung ausgeben.

Eines der wichtigsten und heilsamsten Güter ist bei dieser Zersplitterung der Medizin in die Brüche gegangen in das Vertrauen zum Arzt.

Natürlich hat der Kranke Vertrauen in die Kunst des Spezialisten, an den er sich wendet, aber wohl verstanden, nur in seine Kunst, nicht in seine Person, die er meist vorher nie gekannt hat. Das ist der Unterschied gegen früher: der Hausarzt war Hausfreund, das Vertrauen galt nicht nur dem Wissen, sondern auch dem Charakter. Und dieser Faktor ist nicht gering anzuschlagen. Nur zu leicht verschwindet das unpersönliche Vertrauen, wenn der Erfolg sich nicht oder nicht so schnell einstellt, wie der Kranke erwartet. Der Hausarzt von ehemals brauchte nicht zu fürchten, daß seine Kranken nach 14 Tagen zum Konkurrenten laufen, der unter Umstanden- auch solche Fälle kommen ja leider nicht allzu selten vor- mit vielsagendem Achselzucken erklärt, er könne der Auffassung des Kollegen x nicht beistimmen und halte er eine ganz andere, aber ganz andere Behandlungsmethode für angezeigt. Doktor y überlegt dabei nicht, daß er mit seinen Worten nicht nur dem Konkurrenten schadet, sondern dem ganzen Stande, und daß er, was noch schlimmer ist, dem Kranken das Vertrauen raubt. Damit begeht er aber ein unverzeiliches Verbrechen.

Was den meisten Kranken, mag ihr Leiden ernster Natur sein oder nicht, ihren Zustand zur Qual macht, sind nur in Ausnahmsfällen die besonderen Beschwerden, seien es Schmerzen oder sonstige durch die Krankheit bedingte Störungen. Viel schwerer empfinden sie das allgemeiene Krankheitsgefühl, jene unerklärliche Verschiebung der Seelenstimmung, die schlimmer als die ärgsten Schmerzenden modernen Menschen plagt, ihm beständig seinen Zustand vor Augen führt, ihn selbst in beschwerde- freien Augenblicken der Lebenslust beraubt. Jene Fülle von nervösen Auf regungszuständen und Beschwerden die bei jedem Kranken heutzutage mit Sicherheit anzutreffen sind. Vielfach, wenn das ursprüngliche Leiden geschwunden ist, bestehen die nervösen oder hypochondrischen Zustände weiter durch Jahre, durch Jahrzehnte, bis zum Tode. Man schiebt diese Erscheinungen aus die allgemeine Nervosität unserer Zeit. Das mag zum Teil richtig sein, in der Hauptsache aber ist die Ursache in dem mangelnden persönlichen Vertrauen zum behandelnden Arzte, in dem Gefühl, nicht verstanden zu werden, zu suchen. Dabei habe ich durchaus nicht jene Fälle im Auge, wo der Kranke sich sagt: der Arzt versteht mein Leiden nicht; ich meine vielmehr jene Fälle, wo das Vertrauen in die Richtigkeit der Methode und Diagnose vollkommen unerschüttert ist, wo aber das Gefühl des Unverstandenseins sich nicht auf seine Krankheit, sondern auf seinen Allgemeinzustand bezieht.

Ohne sich darüber klar zu werden, hält der Leidende diese beiden Dinge auseinander. Und wenn die Krankheit noch so fachgemäß behandelt wird, der Kranke leidet, wenn er nur den fremden Arzt vor sich sieht und nicht den Freund, der tröstet und mitfühlt. Denn ein Kranker ist wie ein Kind: er will gepflegt, bestraft und belohnt werden, er will Zeichen der persönlichen Teilnahme sehen. Dann fühlt er sich erleichtert, dann hat er die Empfindung, daß die Lastseines Zustandes nicht nur auf ihm ruht, sondern von einem anderen mitgetragen wird, dann wird er Herr über das Krankheitsgefühl. Stehen dem Kranken mitfühlende Freunde zur Seite, dann erträgt er schließlich das heutige System noch (1906!) Schlimmer aber wird es, wenn er in seiner Hot noch allein ist. Das bestehende System, mag es wissenschaftlich noch so hochwertig sein, mag es auch den Körper rasch und schnell heilen, ist auf die Dauer nicht haltbar, wenn es die seelischen Vorgänge, die mit jeder Krankheit verbunden sind, übersieht, um nicht zu sagen ungünstig beeinflußt. Das rein menschliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Kranken und dem
Arzt ist für beide Teile so wichtig, daß kein Mittel unversucht bleiben sollte, es wieder herzustellen.

Zusammen gefasst von Michael Butterwegge nach einem Aufsatz von Dr. med. Adolf Stark aus dem Jahre 1906.

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